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441âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
der preuĂische GroĂerbe indes nie persönlich in BerĂŒhrung gekommen und
macht sich deshalb anrĂŒhrend romantische Vorstellungen davon :
Arnheim besaĂ einen GĂ€rtnergehilfen, einen tiefschlichten Menschen, wie er das
nannte, mit dem er sich oft ĂŒber das Leben der Blumen unterhielt, weil man von
so einem Mann mehr lernen kann als von Gelehrten. Bis Arnheim eines Tags ent-
deckte, daĂ dieser Gehilfe ihn bestahl. Man kann sagen, er trug geradezu verzweifelt
alles weg, was er erreichen konnte, und sparte den Erlös auf, um sich selbstÀndig zu
machen, das war der einzige Gedanke, der ihn Tag und Nacht besaĂ ; aber einmal
verschwand auch eine kleine Skulptur, und die zu Hilfe genommene Polizei deckte
den Zusammenhang auf. An dem Abend, wo Arnheim von dieser Entdeckung be-
nachrichtigt wurde, lieĂ er den Mann rufen und machte ihm die ganze Nacht lang
VorwĂŒrfe wegen der Irrwege seines leidenschaftlichen Erwerbtriebs. Man erzĂ€hlte,
daĂ er selbst dabei sehr aufgeregt gewesen sei und zeitweise nahe daran, in einem
dunklen Nebenzimmer zu weinen. Denn er beneidete diesen Mann, aus Ursachen,
die er sich nicht erklÀren konnte, und am nÀchsten Morgen lieà er ihn von der Polizei
abfĂŒhren. (MoE 187 f.)
Wie Götz MĂŒller gezeigt hat, wird in dieser Episode, fĂŒr die es kein unmit-
telbares Vorbild bei Rathenau gibt318 â wie auch in einer entsprechenden mit
dem Diener Soliman (vgl. MoE 222) â, âArnheims Glaube an die âMission
der Unterschichtenââ parodiert.319 Abgesehen davon spricht jedoch aus sei-
nem verzweifelten Festhalten am Schlichten und NatĂŒrlichen in einer abstrakt
gewordenen Welt und besonders in seiner mehr als komisch anmutenden
Abscheu vor dem âIrrwegâ eines âleidenschaftlichen Erwerbtriebsâ zusĂ€tz-
lich eine Wiederkehr des VerdrÀngten, die sich auch in folgender Verneinung
gegenĂŒber Diotima ausdrĂŒckt : âIch will nicht von den zahllosen Existenzen
sprechen, die von mir abhĂ€ngen, so daĂ ich fĂŒr sie fast das Schicksal vertreteâ
(MoE 269).320
Dieser sich selbst groĂzĂŒgig zugesprochenen paternalistischen Rolle, fĂŒr
die von ihm abhĂ€ngigen Lohnarbeiter âdas Schicksal zu vertretenâ, möchte
der verantwortungsvoll denkende GroĂerbe durchaus gerecht werden â und
entspricht damit jener von Bourdieu diagnostizierten Geste mÀnnlicher StÀrke
318 Vgl. Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 279.
319 MĂŒller : Ideologiekritik und Metasprache, S. 14, Anm. 6.
320 Arnheims Maxime wird spĂ€ter durch Diotimas verfĂ€lschende Paraphrase unfreiwillig bloĂge-
stellt : â[F]ĂŒr Arnheim ist Reichtum eine unglaublich durchdringende Verantwortung. Er sorgt
sich um sein GeschĂ€ft, wie es ein anderer um einen Menschen tĂ€te, der ihm anvertraut ist.â
(MoE 469)
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208