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483âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
Arnheim, der auch die paradoxe Vermengung von ökonomischer Potenz und
politisch-symbolischer Zweitrangigkeit exemplifiziert, wenngleich er Letztere
aufgrund der ihm entgegengebrachten breiten Anerkennung tendenziell ver-
gessen lĂ€sst und als PreuĂe kein Angehöriger der kakanischen Gesellschaft im
engeren Sinn ist â wohl aber des Romankosmos im Ganzen. Um Musils erzĂ€h-
lerische Figurenkonstruktion historisch genauer einordnen zu können, lohnt
sich ein Blick auf die Erkenntnisse der neueren Sozialgeschichte :
Die Konkurrenz zwischen dem BĂŒrgertum und der Aristokratie bildete den Aus-
gangspunkt fĂŒr eine zunehmende und komplexe Umstrukturierung der herrschen-
den Klassen Ăsterreichs, einer internen Differenzierung jeder dieser zwei Klassen
und schlieĂlich einer gegenseitigen Durchdringung zwischen den unteren Fraktionen
des Adels und dem hĂ€ufig geadelten GroĂbĂŒrgertum. / Obwohl die wirtschaftliche
Macht des BĂŒrgertums stetig zunahm, blieb das gesellschaftliche Leben stark von
Privilegien und adeligem Stil durchdrungen. Bedeutende Sektoren des politischen
Lebens, der Zugang zu den leitenden Posten in der Armee, der Diplomatie, am Hof
und der direkten Umgebung des Kaisers, blieben, und dies bis zum Ende des Kaiser-
reichs, fĂŒr das BĂŒrgertum hermetisch abgeschlossen.447
Eine bemerkenswerte Folge dieser charakteristischen Konstellation, die im
Ăbrigen auch bei anderen europĂ€ischen GroĂmĂ€chten â wie Deutschland
oder Russland â in Ă€hnlicher Weise zu beobachten war, liegt in einer spezifi-
schen Habitusformung des gehobenen BĂŒrgertums : âWeniger die Erlangung
der politischen Macht als vielmehr seine Assimilation an den Adel war des-
halb das Ideal des österreichischen BĂŒrgers. Der bĂŒrgerliche Lebensstil paĂte
sich somit aristokratischen Werten an.â448 Die Krönung einer solchen Assi-
milation bestand in der möglichen Nobilitierung durch den Kaiser, die Musil
bei seinem Vater selbst erlebt hat und von der er auch sein romaneskes Alter
Ego Ulrich bzw. dessen Vater profitieren lÀsst. Gegen Ende der Monarchie
wurde diese Gratifikation recht inflationÀr gewÀhrt, und das wohl nicht ohne
politische Hintergedanken : âDie Zugangsmöglichkeit zur Aristokratie war
ganz offensichtlich dazu bestimmt, LoyalitÀtsbande zwischen dem Feudaladel
und dem Staatsapparat zu schmieden.â449 Ein fiktionales Beispiel fĂŒr solche
fest geknĂŒpften LoyalitĂ€tsbande stellt der Sektionschef Tuzzi dar, der sich als
SpitzenfunktionÀr habituell noch stÀrker am Adel orientiert als etwa Arnheim
447 Pollak : Wien 1900, S. 70.
448 Ebd.
449 Ebd., S. 71.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208