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494 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
Entwicklung Diotimas von der Diplomatengattin zur groĂen Wiener Salon-
niĂšre, wie âdurch einen Zufall plötzlich der Aufstieg ihres Mannes damit be-
gann, daĂ ein wohlwollender und âfortschrittlichâ gesinnter Minister sich den
BĂŒrgerlichen in die PrĂ€sidialkanzlei der Zentralstelle holte. In dieser Stellung
kamen nun viele Leute zu Tuzzi, die etwas von ihm wolltenâ und denen der
ânĂŒchterne, aber ungemein verlĂ€Ăliche Verstandâ des spĂ€teren Sektionschefs
auffiel (MoE 97 f.). Dies fĂŒhrt dazu, dass er in dem MaĂ âweiter emporstiegâ,
in welchem âsich immer mehr Leute ein[fanden], die seine NĂ€he suchtenâ
(MoE 98). Der sehr seriös wirkende Tuzzi scheint mit ebenjener spezifischen
âEigenschaftlichkeitâ ausgestattet, die Ulrich programmatisch entbehrt, wes-
halb dieser vor ihrer ersten Begegnung ânicht weit davon entferntâ ist, âsich
den einfluĂreichen Sektionschef als eine Art properen Kavalleriewachtmeis-
ter vorzustellen, der hochadelige EinjĂ€hrige kommandieren muĂâ (MoE 92).
Die zu einfache Vorstellung wird allerdings grĂŒndlich LĂŒgen gestraft. Musils
ErzÀhler ironisiert solcherart implizit die Gefahr vorschneller Ableitungen auf
der Basis ungenauer Informationen, gesellschaftlicher Vorurteile oder bloĂer
GerĂŒchte. TatsĂ€chlich bewahrt sich Tuzzi aber einen traditionellen Respekt
vor den gegebenen sozialen Hierarchien, wodurch er sich von Ulrich wie-
derum deutlich unterscheidet : â[E]rnst nahm dieser erfahrene Mann nur die
Macht, die Pflicht, hohe Abkunft und in einigem Abstand davon die Vernunft.â
(MoE 106) Er stellt damit die fĂŒr den Mann ohne Eigenschaften geltende Rei-
henfolge auf den Kopf.
Was die bewusste Arbeit an der eigenen Habitusformung betrifft, orientiert
sich der bĂŒrgerliche Sektionschef am kakanischen Adel : âTuzzis Grundsatz
war, daĂ man im Ausdruck sparsam sein mĂŒsse und Wortspiele, wenn man ih-
rer auch im geistvollen GesprÀch nicht ganz entbehren könne, niemals zu gut
sein dĂŒrfen, weil das bĂŒrgerlich sei.â (MoE 96) Wie zentral diese âEigenschaftâ
fĂŒr die Figurengestaltung Tuzzis ist486, geht aus dem wiederholten Hinweis
hervor, dass âer sich [âŠ] niemals Gleichnisse gestattete, weil sie [âŠ] nach
schlechter gesellschaftlicher Haltung riechenâ (MoE 201). Sichtbar wird in
dieser bemĂŒht zurĂŒckhaltenden Ausdrucksweise allerdings eine gewisse sym-
bolische Ăberkompensation des aufgestiegenen BĂŒrgers, denn im Romankon-
text legt ja gerade der Graf Leinsdorf eine besondere Vorliebe fĂŒr Gleichnisse
sicht angeblich unprÀzisen Gestaltung Leinsdorfs (vgl. ebd., S. 251) entgegen. Wie die Ergeb-
nisse der obigen Figurenanalyse Leinsdorfs zeigen, ist eine so scharfe GegenĂŒberstellung kaum
haltbar.
486 TatsĂ€chlich grĂŒndet Tuzzis Vorbehalt gegen Wortspiele wohl auch im Umstand, dass es sich
dabei um âeines der typischsten Charakteristika der BohĂšmekulturâ handelt, wie Bourdieu : Die
Regeln der Kunst, S. 392, festhÀlt.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208