Seite - 495 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Bild der Seite - 495 -
Text der Seite - 495 -
495âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
an den Tag (vgl. MoE 88 f. u. 138 f.). Bei allen BemĂŒhungen um Anpassung an
sein adeliges Umfeld bleibt Tuzzi â Ă€hnlich wie Ulrichs Vater oder Paul Arn-
heim auf jeweils ihre Weise â sich seiner bĂŒrgerlichen Herkunft und der damit
in Kakanien einhergehenden dominiert-dominierenden Stellung indes wohl
bewusst : Sein Umgang ist geprĂ€gt von âjener sanften, vorsichtshalber und os-
tensibel ein wenig ĂŒbertriebenen Zuvorkommenheitâ, die er sich âim Verkehr
mit jungen Adeligenâ angeeignet hat, âdie seine Untergebenen waren, aber
eines Tags seine Minister sein konntenâ (MoE 95). Er vereint also tatsĂ€chlich
jene vorteilhafte âpersönliche Unentbehrlichkeit mit bescheidenem ZurĂŒck-
tretenkönnenâ (MoE 92), die Ulrich bereits vor ihrer persönlichen Bekannt-
schaft bei ihm vermutet, indem er â in dieser Hinsicht durchaus zutreffend
â aus seiner Kenntnis von Tuzzis beruflichem Werdegang schlieĂt. Politisch
dem dynastisch-aristokratischen Konservativismus verpflichtet, bewahrt der
Sektionschef stets eine gewisse BodenstĂ€ndigkeit gegenĂŒber den forcierten
symbolischen Aspirationen des aufsteigewilligen BĂŒrgertums ; so legt er im
Unterschied zu Diotima (vgl. MoE 334) Wert darauf, âweiterhin Hans und
nicht Giovanniâ zu heiĂen, denn er vergisst nicht, âtrotz seines Familienna-
mens die italienische Sprache erst auf der Konsularakademie erlerntâ zu haben
(MoE 92). Ein weiterer Grund fĂŒr seine ZurĂŒckhaltung in Stilfragen besteht
in seinem âösterreichische[n] Zynismusâ (MoE 196), wie der ErzĂ€hler aus der
Perspektive Arnheims formuliert ; aus Musils Sicht bezeichnet das wohl we-
niger eine substanzielle âEigenschaftâ als vielmehr eine historisch gewachsene
kulturelle PrĂ€gung. Bisweilen geht in Tuzzis GesprĂ€chsbeitrĂ€gen âdas Aroma
der Ironieâ jedoch allein schon âvon der naiven Sachlichkeit aus, in deren trok-
kener Schale erâ seine âĂberzeugungâ darbietet (MoE 595).
Die zuletzt genannten Distanzierungsgesten sollten nicht darĂŒber hinweg-
tĂ€uschen, dass der Diplomat im Romankontext ReprĂ€sentant einer âFunk-
tionĂ€rshaltungâ ist, âwelche die von den vorgesetzten Stellen vorgegebenen
Ziele unbefragt und möglichst effizient zu erfĂŒllen suchtâ, wie Howald unter
Berufung auf Hartmut Böhme hervorhebt.487 Musil selbst vermerkt in seinem
Arbeitsheft 8 den âMangel an Initiative und eigener Meinung innerhalb ei-
ner monarchistischen BĂŒrokratie. Tun, was man fĂŒr recht hĂ€lt, ist eine An-
maĂung. Dieses Recht hat nur der Monarch.â (Tb 1, 358) Bei der spĂ€teren
Arbeit an der erzÀhlerischen Gestaltung des Sektionschefs Tuzzi bezieht er
sich ausdrĂŒcklich auf diesen Eintrag (vgl. Tb 2, 220, Anm. 49).488 Im ferti-
487 Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 297 ; vgl. Böhme : Theoretische Pro-
bleme, S. 192.
488 Vgl. auch eine bezeichnende Notiz Musils im Arbeitsheft 8 angesichts des Gnadenappells eines
zurĂŒck zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208