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547âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
Stumm betreibt sein PlĂ€doyer fĂŒr eine AufrĂŒstung von Artillerie und Marine
durchaus beharrlich, wobei er bei der erneuten Formulierung seines Vorschlags
sogar merklich weniger euphemistisch âvon einer etwa bevorstehenden Lan-
desverteidigungâ spricht (MoE 585). Bezeichnend ist in diesem Zusammen-
hang der Umstand, dass Stumms Stellungnahme vom offenbar eingeweihten
Arnheim (vgl. MoE 774 f.) vorbereitet wird und zum MissvergnĂŒgen Leins-
dorfs auch lĂ€ngst mit Tuzzi bzw. dem AuĂenministerium akkordiert erscheint
(vgl. MoE 585 f.). Der folgende Scherz des Generals ĂŒber fehlende ZĂŒndhölzer
bei einem etwaigen Kriegsausbruch, der offenbar die an den angedeuteten Ma-
chinationen unbeteiligten GesprÀchsteilnehmer ablenken und beruhigen soll,
kann den âbedrohliche[n] Ernstâ (MoE 586) der Situation nur mĂŒhsam ĂŒber-
tĂŒnchen. Wenn Diotima daraufhin Stumms AufrĂŒstungsplĂ€ne empört ablehnt,
weil man damit in Kakanien genau das tĂ€te, âwas man Deutschland vorwirftâ
(MoE 586), dann motiviert sie im Nachhinein Stumms Sorge angesichts ihres
pazifistischen Engagements, die er gegenĂŒber Ulrich schon relativ frĂŒh artiku-
liert hatte : âUnd ich bin jetzt ehrlich besorgt, daĂ deine Kusine mit ihren Be-
strebungen am Ende noch etwas anrichtet, das ihr sehr schaden kann, wÀhrend
ich ihr weniger helfen kann als je !â (MoE 465) Dem, der genau hinhört, wird
bereits an dieser Stelle die Sympathie fĂŒr den tölpelhaften General ein wenig
vergĂ€llt. Stumm selber verbirgt ĂŒberdies zu keinem Zeitpunkt seine an Clau-
sewitzens Diktum vom âKrieg als FortfĂŒhrung der Politik mit anderen Mittelnâ
angelehnte, in der Formulierung aber noch verschÀrfte, ja ganz offen bellizisti-
sche âĂberzeugung, daĂ der Krieg nichts ist wie die Fortsetzung des Friedens
mit stÀrkeren Mitteln, eine kraftvolle Art der Ordnung, ohne die die Welt nicht
mehr bestehen kannâ (MoE 521). Er bestĂ€tigt spĂ€ter auch die von Ulrich ver-
muteten âgemeinsame[n] Interessen mit dem Arnheim an diesen Ălfeldernâ
und gibt sich damit zögerlich als gewiefter Machtpolitiker zu erkennen, der
sogar den preuĂischen Nabob âvorzuspannenâ gedenkt, wie er jetzt erstaun-
lich offenherzig formuliert (MoE 775). In Ăbereinstimmung mit seiner bisher
so erfolgreichen Verschleierungstaktik verharmlost er etwa seine militÀrische
Aufgabe wÀhrend der Annexion Bosniens 1908 mithilfe einer schnurrigen
Anekdote (MoE 775 f.) und versucht gegenĂŒber dem schlieĂlich misstrauisch
werdenden Ulrich zuletzt auch seinen politischen âAuftragâ in der Parallelak-
tion als âTeilauftragâ oder gar âAuftragerlâ herunterzuspielen : âIch bin jetzt ein
RÀdchen. Ein FÀdchen. Eine Amorette, in deren Köcher man nur noch einen
einzigen Pfeil gelassen hat ⊠!â (MoE 1131) In diesen verniedlichenden Wor-
ten steckt freilich wieder eine gehörige Portion Wahrheit, denn im modernen
Staatsapparat kommt es genauso wenig wie im modernen Stellungskrieg auf
heroische Ritterlichkeit alten Schlages an, wie Musils soziologisch und mili-
zurĂŒck zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208