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588 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
könne742, und mit der finalen Kategorie der âRasseâ nennt der prophetische
Denker eines der ihm ĂŒber allen Zweifel erhabenen SchlĂŒsselwörter seiner
Lehre, zu dem sich Àhnlich abstrakte, allgemeine und inhaltsleere Begriffe
wie âMutâ und âEhreâ gesellen. Meingast vertritt eine strikte normative Unter-
scheidung zwischen âWertâ und âUnwertâ, die er voluntaristisch fĂ€llen zu kön-
nen beansprucht, wobei beim zuletzt genannten Begriff schon jene unselige
Formel vom âunwertenâ Leben anklingt, die wohl erst aus dem historischen
Abstand ihre ganze Implikationsbreite entfaltet. Ăber weitere antiintellektu-
elle und antimoderne GemeinplÀtze des ersten Jahrhundertdrittels gelangt
er schlieĂlich zum ideologischen Kern seines Denkens, das in einen gewalt-
verherrlichenden Aktivismus mĂŒndet. Die entsprechende Passage sei hier in
GÀnze zitiert, um Musils Technik der denunziatorischen erzÀhlerischen Ver-
dichtung zu dokumentieren :
Meingast hÀtte noch mehr gesprochen, da er einmal im Zug war. Erstens davon,
daĂ der Erlösungs-Gedanke immer anti-intellektuell gewesen sei. âAlso ist nichts der
Welt heute mehr zu wĂŒnschen als ein guter krĂ€ftiger Wahnâ : diesen Satz hatte er so-
gar schon auf der Zunge gehabt, dann aber zugunsten der anderen SchluĂwendung
hinuntergeschluckt. Zweitens von der körperlichen Mitbedeutung der Erlösungsvor-
stellung, die schon durch den Wortkern âlösenâ, verwandt mit âlockernâ, gegeben sei ;
eine körperliche Mitbedeutung, die darauf hinweist, daà nur Taten erlösen können,
das heiĂt Erlebnisse, die den ganzen Menschen mit Haut und Haaren einbeziehn.
Drittens hatte er davon sprechen wollen, daĂ wegen der Ăber-Intellektualisierung
des Mannes unter UmstĂ€nden die Frau die instinktive FĂŒhrung zur Tat ĂŒbernehmen
werde, wovon Clarisse eines der ersten Beispiele sei. Endlich von der Wandlung des
Erlösungsgedankens in der Geschichte der Völker ĂŒberhaupt und davon, wie gegen-
wĂ€rtig in dieser Entwicklung die jahrhundertealte Vorherrschaft des Glaubens, daĂ
Erlösung bloĂ ein vom religiösen GefĂŒhl geschaffener Begriff sei, der Erkenntnis Platz
mache, daà sie durch die Entschlossenheit des Willens, ja, wenn nötig, sogar durch
Gewalt herbeigefĂŒhrt werden mĂŒsse. Denn die Erlösung der Welt durch Gewalt war
augenblicklich der Mittelpunkt seiner Gedanken. (MoE 834)
742 Meingasts PlĂ€doyer fĂŒr die âEntscheidungâ lĂ€sst an den voluntaristischen Dezisionismus Carl
Schmitts denken, dessen antipluralistische Polemik bereits unmittelbar nach dem Ersten Welt-
krieg einsetzte und fĂŒr das antidemokratische Denken der konservativen Revolution insgesamt
bezeichnend ist ; vgl. Schmitt : Politische Romantik, S. 3 : âWas ĂŒber den Tag hinaus als sach-
liche Bestimmung bleibt und deshalb eine grĂŒndliche Bestimmung verlangt, schleppt sich in
Vieldeutigkeiten und Wortstreitigkeiten fort, und wer in dem Wirrwarr eine sachliche Klarle-
gung sucht, bemerkt bald, daà er in ein ewiges GesprÀch und ein aussichtsloses Gerede verwik-
kelt ist.â
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208