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596 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
Augen aus sich hinaus gehoben werden. Aber der Meister schluckte den letzten Rest
der NuĂ gewaltsam hinunter und setzte seine Belehrung fort [âŠ]. (MoE 833)
Um die ganze pathetische Eindringlichkeit dieses plakativen Essvorgangs sowie
seine unterschwellige erotische Aufladung zu veranschaulichen, eignet sich ein
Blick auf den Kontrast, der sich zu einer weiteren Passage aus demselben Ka-
pitel einstellt, die ebenfalls einen Zusammenhang zwischen Denkprozess und
Fruchtverzehr inszeniert : âWalter, der, um an sich zu halten, eine Mandarine
schÀlte, schnitt in diesem Augenblick zu tief, und ein Àtzender Strahl spritzte
ihm ins Auge, so daĂ er zurĂŒckfuhr und nach dem Taschentuch suchte.â (MoE
835) Die sich bei dem in mehrerer Hinsicht hilflosen Walter unwillkĂŒrlich ein-
stellende, höchst unfreiwillige Situationskomik lĂ€sst die wĂŒrdevolle Redeweise
des Propheten kontrastiv noch deutlicher zum Vorschein kommen. Insgesamt
kann festgehalten werden, dass Meingasts Art zu Sprechen immer auf gröĂt-
möglichen Effekt und Ăberrumpelung jeglicher kritischen Distanz bedacht ist
und dass der âSchaustellerâ (MoE 780) dieses Ziel bei den meisten seiner Zu-
hörer auch umstandslos erreicht. Allerdings â und diese EinschrĂ€nkung ist hier
entscheidend â gilt das nur fĂŒr seine intradiegetischen GesprĂ€chspartner ; fĂŒr die
extradiegetischen Leser des Romans erscheint das propositionale Wirkungs-
ziel von Meingasts ĂuĂerungen durch die Ausstellung ihrer rhetorischen Zu-
richtung seitens des ideologiekritischen ErzÀhlers in dem Maà hintertrieben, in
dem es innerhalb der Diegese durch sie befördert werden soll.
Ein drittes und nicht unerhebliches Element der erzÀhlerischen Ideolo-
giekritik besteht in der Reaktion der Hauptfigur Ulrich auf den faschistoiden
Propheten. Er Ă€uĂert seine Zweifel, ja seine Ablehnung in sentenzenhaften
Formulierungen von aphoristischer PrĂ€gnanz, etwa : âEs gibt SĂŒnden- und Tu-
gendböcke ; auĂerdem gibt es Schafe, die ihrer bedĂŒrfen !â (MoE 783) Oder
noch sarkastischer mit Blick auf Meingasts bestechende Physiognomie : âBe-
sonders schöne MÀnnerköpfe sind gewöhnlich dumm ; besonders tiefe Philo-
sophen sind gewöhnlich flache Denkerâ (MoE 783). Stilistisch nicht ganz so
prĂ€gnant, aber dafĂŒr diagnostisch umso schĂ€rfer ist folgende zentrale Passage
in Ulrichs BeweisfĂŒhrung gegen den raunenden Philosophen, in der er die
einfachen Dichotomien auf den Kopf stellt :
Dieser Meingast lebt davon, daĂ heute Ahnen und Glauben verwechselt wird [âŠ].
Beinahe alles, was nicht Wissenschaft ist, kann man ja nur ahnen, und das ist etwas,
wozu man Leidenschaft und Vorsicht braucht. So wÀre eine Methodenlehre dessen,
was man nicht weiĂ, beinahe das gleiche wie eine Methodenlehre des Lebens. Ihr
aber âglaubtâ, sobald euch einer bloĂ wie Meingast kommt ! Und alle tun das. Und
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208