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614 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
den 1890 in Prag geborenen Schriftsteller Franz Werfel818, mit dem Musil sich
anhaltend auseinandersetzte.819 Mehr noch : âMusil hat sich mit keinem zeit-
genössischen Schriftsteller, abgesehen von Thomas Mann, so stark beschÀf-
tigt wie mit Franz Werfel.â820 Er selbst war zehn Jahre Ă€lter als dieser, sollte
von ihm aber bald und bei weitem an literarischem Erfolg ĂŒberflĂŒgelt werden.
Schon 1913 diagnostizierte Musil in seinen Vorarbeiten zum geplanten Roman
zahlreiche âAlbernheiten in der Kunstâ als Resultat einer ausbleibenden âUm-
bildung des religiösen Erlebnissesâ ; er nannte dabei Werfel als anschauliches
Beispiel (M VII/6/267 ; Tb 2, 980). Daneben Ă€uĂerte sich Musil zunĂ€chst auch
noch durchaus anerkennend ĂŒber den Prager Dichter, den er 1918 im k. u.
k. Kriegspressequartier persönlich â wenngleich nur flĂŒchtig821 â kennenge-
lernt hatte : âBlei, Werfel, GĂŒtersloh â ein paar andre ausgenommen waren
sie die einzigen Köpfe im KPQ.â (Tb 1, 433) Diese Anerkennung wich jedoch
schnell wieder angesichts der (aufgrund ihrer mit Ahnungslosigkeit gepaarten
Wichtigtuerei) etwas lÀcherlich wirkenden politischen AktivitÀten Egon Er-
win Kischs und Werfels im âGeiste des Expressionismusâ wĂ€hrend der Wiener
Revolution822, die Musil im sogenannten âRevolutionstagebuchâ vom November
1918 (in einem unnummerierten Arbeitsheft) mit beiĂenden Worten kom-
mentierte : Werfel sei âin diesen Tagen blaĂ, mager und ganz heiser geworden.
Hat anscheinend keine Ahnung, was er tut, glaubt auf die Leute im Sinne
friedlichen Umsturzes zu wirken. Er ist enorm komischâ, zumal er von âzwei
richtige[n] Anarchisten vor sich herâ geschoben werde (Tb 1, 343).
Merklich ambivalent klingt dann das Fazit seiner im Ganzen keineswegs
unfairen Besprechung der Premiere von Werfels Drama Bocksgesang im Wiener
Raimundtheater vom 7. MĂ€rz 1922 : âWerfel fĂŒhrt seit Jahren einen energischen
Kampf um vertiefte Bedeutung ; er fĂŒhrt ihn meiner Ansicht nach zu klug,
zu wenig gegen sich selbst ; was nicht zu hindern braucht, daĂ ihm vielleicht
Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 362, Anm. 436, wohl zurecht relati-
viert, nicht aber hinsichtlich seiner ideologischen Funktion fĂŒr die romaneske Gesamtanlage,
wie noch zu zeigen sein wird ; vgl. dazu auch die einschlÀgigen Bemerkungen in Kap. II.3.2
sowie vor allem in Kap. III.1.1.
818 Zu Musils zunÀchst ambivalentem, spÀter intrikatem VerhÀltnis zu Werfel vgl. Strutz : Politik
und Literatur, S. 14 f. u. 90â96 ; Corino : Musil [2003], S. 911â917.
819 Vgl. Strutz : Politik und Literatur, S. 15 ; Corino : Musil [2003], S. 911â914.
820 Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 360 ; vgl. Strutz : Politik und Litera-
tur, S. 91.
821 Vgl. Tb 2, 205, Anm. 149 ; Corino : Musil [2003], S. 912. Nichts zu Musil und kaum etwas zu
Werfel erfÀhrt man bei Broucek : Das Kriegspressequartier und die literarischen Gruppen im
Kriegsarchiv 1914â1918, S. 137.
822 Vgl. Corino : Musil [2003], S. 589 f.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208