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629âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
abqualifiziert. Sie erlaubt es den verschiedenen Figuren des Romans, jeweils
ihre eigenen Phantasmen auf Feuermaul zu projizieren und diese Projektionen
dann in vorderhand stimmigen Diskursen zu plausibilisieren, welche unterei-
nander nur sehr eingeschrÀnkte KompatibilitÀt aufweisen. Im Rahmen dieser
âVerhandlungen ĂŒber Feuermaulâ vermutet etwa Graf Leinsdorf in Gegenwart
Ulrichs, dass âder Arnheim den Feuermaulâ deshalb âprotegiertâ, weil er sich
dadurch Vorteile fĂŒr sein geplantes GeschĂ€ft âmit den Ălfeldernâ verspricht
(MoE 1019).863 Der hellhörige Diplomat Tuzzi hingegen vermutet Ă€uĂerst
subtil, dass sich noch viel AbgrĂŒndigeres hinter dem Auftreten Feuermauls in
der Parallelaktion versteckt :
âDaĂ dieser Feuermaul heute bei uns ist, hat natĂŒrlich der Arnheim durch den Leins-
dorf veranlaĂt. Haben Sie ĂŒbrigens seine BĂŒcher gelesen ? [âŠ] Ein Erzpazifist !â sagte
Tuzzi. âUnd die Drangsal [âŠ] bemuttert ihn mit solchem Ehrgeiz, daĂ sie fĂŒr den
Pazifismus ĂŒber Leichen geht, wenn es sein muĂ, obwohl sie sich von Haus aus gar
nicht dafĂŒr interessiert, sondern nur fĂŒr KĂŒnstler.â Tuzzi ĂŒberlegte eine kleine Weile,
dann eröffnete er Ulrich : âDer Pazifismus ist natĂŒrlich die Hauptsache, die Ăllager
sind nur ein Ablenkungsmanöver ; darum schiebt man den Feuermaul mit seinem
Pazifismus vor, denn dann denkt jeder : âAha, das ist das Ablenkungsmanöver !â und
glaubt, daĂ es hintenherum um die Ălfelder geht ! Ausgezeichnet gemacht, aber viel
zu klug, als daĂ man es nicht merkte. Denn wenn der Arnheim die galizischen Ăl-
felder und einen Liefervertrag mit dem MilitĂ€rĂ€rar hat, mĂŒssen wir die Grenze natĂŒr-
lich schĂŒtzen. Wir mĂŒssen auch an der Adria ĂlstĂŒtzpunkte fĂŒr die Marine errichten
und Italien beunruhigen. Wenn wir aber in dieser Weise unsere Nachbarn reizen,
steigt natĂŒrlich das FriedensbedĂŒrfnis und die Friedenspropaganda, und wenn dann
der Zar mit irgendeiner Idee zum Ewigen Frieden hervortritt, so wird er den Boden
psychologisch vorbereitet finden. Das ist es, was der Arnheim will !â (MoE 1005 f.; vgl.
MoE 1019)
In diesem Zusammenhang, der in der pazifistischen Initiative des russischen
Zaren Nikolaus II. aus dem Jahr 1898 eine realhistorische Entsprechung hat864,
863 Vgl. den hier zitierten GesprĂ€chsausschnitt in GĂ€nze : ââAber warum protegiert der Arnheim
den Feuermaul ? HĂ€ngt das mit den Ălfeldern zusammen ?â fragte Graf Leinsdorf. âErlaucht
wissen das ? !â rief Ulrich aus. / âNatĂŒrlich weiĂ ich allesâ gab Leinsdorf geduldig zur Antwort.â
(MoE 1019) Fast wortgleich schon in dem bereits zitierten nachgelassenen Schmierblatt, das
Ulrich im GesprÀch mit Leinsdorf zeigt (M II/9/73).
864 Vgl. Fuchs : Geistige Strömungen in Ăsterreich, S. 253 u. 257 : âDer absolute Herrscher des
reaktionĂ€rsten GroĂstaates, der russische Zar, veröffentlichte ein Manifest, in dem er sich ei-
nige Hauptideen des Pazifismus (Schiedsgerichte, RĂŒstungsbeschrĂ€nkung) zueigen machte.â Er
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208