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632 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
fernt werden (vgl. M II/8/73). Der pazifistische Dichter im Roman entspricht
in seiner zwar lautstarken, auf den brutalen Lauf der Dinge aber letztlich ein-
flusslosen Rolle jenen gesinnungsethischen Pazifisten, die in der ârealenâ Ge-
schichte bei bestem Willen und trotz aller Appelle an das Gute weder den bei-
den Weltkriegen noch dem Aufstieg des Nationalsozialismus eine praktikable
Option entgegenzusetzen vermochten.867
Folgt man der Musilâschen Deutung, dann ist das auch eine Folge ihrer
grenzenlosen NaivitĂ€t. In seinen nachgelassenen Notizen âFragen zur Rein-
schrift von Band IIâ hĂ€lt er zur eigenen SelbstverstĂ€ndigung fest, âdaĂ âDer
Mensch ist gutâ eine ganz kindische Lösung istâ (M II/8/91). Dieser Befund
einer regressiven Tendenz liegt schon seiner sarkastischen Diagnose zu-
grunde, die er 1920 im Arbeitsheft 8 unter der Ăberschrift âDer Mensch ist
gutâ notiert : Musil zufolge bezeichnet diese Maxime nĂ€mlich jene Menschen,
die â der oben zitierten frĂŒhen Notiz von 1921 entsprechend (vgl. M I/6/49)
â âder Menschheit am liebsten dort hineinkriechen möchten, wo sie am
wĂ€rmsten istâ (Tb 1, 412). Geboten sei dagegen eine distanziertere und diffe-
renziertere Betrachtungsweise, wie bereits sein Eintrag in das Arbeitsheft 19
vom 17. Dezember 1919 veranschaulicht ; dort weigert er sich, die Frage âIst
der Mensch gut ?â in Form einer eindeutigen Entscheidung zu beantworten :
867 Daran Ă€ndert leider auch jener Einwand wenig, den Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische
Ideologiekritik, S. 364 f., Anm. 446, Anfang der achtziger Jahre aus dem Geist der damaligen
Friedensbewegung formuliert hat : âMusil will Feuermauls Haltung als ahistorische, unzeit-
gemĂ€Ăe Wiederholung jĂŒdisch-vorchristlicher Ethik entlarven.â Die von Musil in der oben
erwĂ€hnten nachgelassenen Quellensammlung âJĂŒdisch-vorchistliche Ethikâ â nicht aber im ka-
nonischen Romantext ! â angeblich nur zu denunziatorischem Zweck festgehaltene Passage aus
dem Buch Jesaja lautet : âDie Schwerter werden zu Pflugscharen, die Spiesse [sic] zu Sicheln
gemacht werden. Die Wölfe werden bei den LÀmmern wohnen und die Pardel bei den Böcken
liegen.â (M I/6/50) Der von ihm selbst konstatierten skeptischen Darstellungsintention Musils
kann Howald nichts abgewinnen : âBekanntlich ist dieser Satz in jĂŒngster Zeit in der BRD
wie in der DDR zu einem zentralen Slogan der neuen Friedensbewegung geworden. Daran
zeigt sich, wie solche âahistorischenâ, besser : ungleichzeitigen Theoreme zur politischen Kraft
werden können, wenn sie die Massen ergreifen.â (S. 364 f., Anm. 446) Ob die beschworene
âpolitische Kraftâ der Friedensbewegung seinerzeit nicht (im Westen) ĂŒberschĂ€tzt oder aber
(im Osten) zu anderen Zwecken instrumentalisiert worden ist und inwiefern Musils skeptische
Position nicht in mancher Hinsicht recht behalten hat, wÀre aus dem historischen Abstand
noch einmal neu zu diskutieren. Die blauĂ€ugige und ĂŒberdies ressentimentgeladene Behaup-
tung, der âbundesdeutsche Ex-Bundeskanzlerâ (sic) Helmut Schmidt habe âdie angebliche [!]
âRaketenlĂŒckeâ zur weiteren AufrĂŒstungâ nur âerfundenâ (so ebd.), wird jedenfalls einer histo-
rischen ĂberprĂŒfung genauso wenig standhalten wie spĂ€testens nach Srebrenica und Ruanda
das apodiktische Urteil : âangesichts solcher âRealpolitikâ erhĂ€lt der noch so illusionĂ€re Pazifis-
mus historisch unbedingt rechtâ.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208