Seite - 653 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Bild der Seite - 653 -
Text der Seite - 653 -
653âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
mende âanimalischeâ Struktur des Begehrens, das eben nicht nach dem weib-
lichen Begehren strebt (und es solcherart anerkennt), sondern nur nach dem
bloĂen Objektbesitz, steht in einer gewissen Analogie zur oben analysierten
und auch von Ulrich kritisierten âscholastischen Vernunftâ (Bourdieu).931 Auch
hier ist ein grenzenlos verspielter Umgang am Werk, der sich auf das eigene
Begehren bezieht und die Bedingung seiner selbst nur in diesem Begehren
und eben nicht in einer sozialen RealitÀt wahrnimmt. In dieser Hinsicht un-
terscheidet sich Musil als analytischer Autor von seinem mÀnnlichen Pro-
tagonisten Ulrich, indem er die âmĂ€nnlicheâ Vorstellung eines bloĂen, weil
nicht âanerkennendenâ Begehrens objektiviert und sich damit keineswegs um-
standslos identifiziert.
Im Unterschied zu anderen Frauenfiguren des Mann ohne Eigenschaften er-
kennt Leona das Begehren ihres Geliebten Ulrich zwar ebenfalls an, besitzt
aber selbst âeine vollkommen sachliche Auffassung der sexuellen Frageâ (MoE
23). SexualitĂ€t ist fĂŒr sie vor allem in ökonomischer Hinsicht bedeutsam, hat
jedoch wenig mit GefĂŒhlen oder gar mit Moral zu tun.932 Der ErzĂ€hler rĂ€umt
diesbezĂŒglich ein : âFreilich, wenn man es durchaus Prostitution nennen will,
wenn ein Mensch nicht, wie es ĂŒblich ist, seine ganze Person fĂŒr Geld hergibt,
sondern nur seinen Körper, so betrieb Leona gelegentlich Prostitution.â (MoE
23) Eine Prostituierte ist demnach eine Frau, die sich nicht kaufen lÀsst, son-
dern nur ihren Körper einsetzt, um an ökonomisches Kapital zu gelangen. Die
Prostitution hat somit zwar teil an dem von Musil apostrophierten âLiebes-
betriebâ (MoE 22), indem sie âdie vom ĂŒbrigen Leben abgespaltene Sinnlich-
keit organisiert und der Logik der Tauschgesetze (des Geldes) unterwirftâ933,
unterscheidet sich darin jedoch nur partiell â und gerade nicht in negativer
Hinsicht â von anderen etablierten Formen des gesellschaftlichen Tauschver-
kehrs. Pekar hat die Esslust Leonas in diesem Zusammenhang und unter Ver-
weis auf Georges Bataille sogar als âeine immanente Kritik an der rationalen
Ăkonomie des âLiebesbetriebsââ bezeichnet, âdenn mit einem wirklich aus-
schweifenden Begehren konfrontiertâ zeige dieser âsehr schnell die Grenzen
seiner Möglichkeitenâ.934 Wie dem auch sei â die unkonventionelle Sichtweise
des Musilâschen ErzĂ€hlers stellt die eingeschliffenen, meist unreflektierten mo-
ralischen Bewertungskriterien der Zeitgenossen auf den Kopf, indem sie die
931 Vgl. Kap. I.3.2.
932 In dieser Hinsicht entspricht ihre fĂŒr damalige VerhĂ€ltnisse provokant moralfreie Darstellung
durch Musil sogar dem zeitgenössischen Rollenbild der âneuen Frauâ ; vgl. etwa Keun : Das
kunstseidene MĂ€dchen, S. 82 f.
933 Pekar : Die Sprache der Liebe, S. 187.
934 Ebd., S. 189.
zurĂŒck zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208