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682 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
Gegenteil mit anderen weiblichen Figuren des Romans (etwa Gerda).1028
Auch der Umstand, dass ihren Aspirationen in einer mÀnnlich dominierten
Gesellschaft enge Grenzen gezogen sind und sie ihren Ehrgeiz deshalb auf
ihren Ehemann Walter projiziert, âin dessen Genie sie alle ihre Hoffnungen
setzt und hierdurch ihre traditionell-bĂŒrgerliche Frauenrolle als stĂŒtzende Er-
gĂ€nzung eines âbedeutendenâ Mannes aufnimmtâ1029, verbindet sie eher mit
anderen weiblichen Figuren (etwa Klementine Fischel), als dass er sie allein
auszeichnet. BestÀtigt wird das durch die Verbitterung, mit der sie (wie Kle-
mentine) auf die ausbleibende Verwirklichung ihrer Erwartungen reagiert :
âIhr Widerstand gegen die Auferlegung von weiteren Frauenrollen, wie dieje-
nige der von Walter abgeforderten Mutterschaftsrolle, meldet sich, als Walter
die in ihn gesetzten Hoffnungen enttÀuscht und sich als Durchschnittsmensch
erweist.â1030 Die strukturelle NĂ€he Clarisses zu Ulrich resultiert also nicht aus
ihren bewussten Intentionen, sondern aus ihrer radikalen Verweigerungshal-
tung gegenĂŒber der herrschenden Wirklichkeit, fĂŒr die in ihrem Fall die Chif-
fre âWahnsinnâ steht : âClarisses âWahnsinnâ lĂ€uft immer mehr in die Richtung
der Verneinung der ihr auferlegten Weiblichkeitsbilder, wie in der Phantasie,
sie sei ein Hermaphrodit. Dahinter schimmert der Wunsch durch, die durch
die MĂ€nner determinierte SexualitĂ€t der Frau zu verneinenâ1031. Es handelt
sich durchaus um einen â allerdings verquer artikulierten â emanzipatorischen
Impuls1032, der in den FortsetzungsentwĂŒrfen in einem gegenĂŒber Meingast
getĂ€tigten Ausruf gipfelt : âIch bin keine Frau !â (M I/5/181 ; vgl. MoE 1538)
Oder mit anderen Worten : âIch vergehe nicht in der Umarmung, in der blö-
den Weiberzerschmelzung, sondern im Kampf !â (M I/5/181)
Clarisse möchte sich in der Liebe nicht hingeben, sondern selber aktiv
sein bzw. ihren Partner penetrieren, und sie wehrt sich vehement dagegen,
als Eigentum ihres Mannes wahrgenommen zu werden.1033 In diesem An-
1028 Vgl. dazu folgenden Eintrag in das Arbeitsheft 21 : âEin groĂer Mensch werden : wie macht man
das ? [âŠ] Diotima, Gerda, Bonadea sind verschiedene Vorstellungen von GröĂe.â (Tb 1, 600)
1029 Schwartz : Musils Frauenbild, S. 326.
1030 Ebd.
1031 Ebd., S. 326 f.
1032 Wie Musil in den spĂ€ten zwanziger Jahren mit Blick auf den âschwĂ€chendenâ âCoitus (ev. auch
mit Walter)â notiert, durchschaut Clarisse âdie Vorstellung : du wirst mich schwĂ€chen, zum
Weib machen, damit du strahlend bleibstâ (MoE 1540).
1033 Schon in den Ă€lteren Kapitelgruppen-EntwĂŒrfen aus den spĂ€ten zwanziger Jahren hat Musil
Clarisse ausrufen lassen : âIch bin kein Weib [âŠ], ich bin der Hermaphrodit !â (MoE 1538) In einer
spĂ€ter hinzugefĂŒgten ErgĂ€nzung fĂŒhrt Clarisse diesen Gedanken weiter aus : â[I]ch bin manch-
mal Mann. Ich bin noch nie in den Armen eines Mannes âvergangenâ ; ich stoĂe ! ich durchdringe
ihn ! â Ich gehöre niemandem, ich bin so stark, daĂ ich mit mehreren MĂ€nnern gleichzeitig
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208