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703âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
lich bemĂŒht, ihren Eltern nicht zu gehorchen, und litt unter der Bangigkeit, daĂ ihre
Abstammung sie hindern könnte, Hansens Gedanken zu folgen. Sie regte sich gegen
die Tabugrenzen der Moral des sogenannten guten Hauses, den anmaĂenden und
erstickenden Eingriff des elterlichen VerfĂŒgungsrechts in die Persönlichkeit aus dem
Innersten auf [âŠ]. (MoE 313)
In jeder Hinsicht erweist sich Gerda als gespaltene, ja zerrissene Figur. Sie
schreibt die mangelhafte Nachvollziehbarkeit von âHansens Gedankenâ kei-
nen Augenblick diesen selber zu, sondern lieber der eigenen, scheinbar ras-
sisch begrĂŒndeten UnfĂ€higkeit zu ihrer Anverwandlung â und steht damit in
einer strukturellen Analogie zu Arnheims latent antisemitischer Furcht vor der
âVernunft seiner Familieâ (MoE 543). Solche bei ihr als Tochter eines assimi-
lierten jĂŒdischen Vaters unweigerlich selbstzerstörerischen Ăberlegungen ĂŒber
die nachteiligen Wirkungen ihres biologischen Erbes zeigen die eminente
habituelle Unsicherheit, unter der Gerda aufgrund ihrer familiÀren Situation
und der allgemeinen ideologischen Verwerfungen des frĂŒhen 20. Jahrhunderts
leidet. Wie Bourdieu empirisch nachgewiesen hat, neigen solche Erfahrun-
gen âdazu, einen zerrissenen, in sich gespaltenen Habitus hervorzubringen,
der sich in stÀndiger Negation seiner selbst und seiner eigenen Ambivalenzen
befindet und somit einer Art Verdoppelung, einer zweifachen Selbstwahrneh-
mung und wechselnden Wahrheiten sowie einer Vielfalt von IdentitÀten aus-
geliefert istâ1093. Die habituelle Disposition der Erbin widerspricht dabei dem
âsozialen Schicksalâ, also den objektiven Möglichkeiten, das Erbe gewinnbrin-
gend einzusetzen.1094 Konkret auf Gerda gemĂŒnzt bedeutet das : Angesichts
des grassierenden Antisemitismus ist es ihr unmöglich, den jĂŒdischen Vater zu
verehren. Ihn mehr als vordergrĂŒndig zu verachten, ist ihr aber ebenfalls un-
möglich, zumal sie ihm aufgrund der von ihm verbĂŒrgten familiĂ€ren Kapital-
ausstattung ihre soziale Stellung verdankt. Ihre ökonomisch komfortable Lage
verleiht ihr zwar einerseits eine gewisse Freiheit gegenĂŒber der traditionellen
Frauenrolle (und damit gegenĂŒber dem Zwang zur schnellen Heirat), anderer-
seits aber auch gegenĂŒber dem typisch aspirantenhaften Diskurs der mittello-
sen jungen âChrist-Germanenâ, die ihr ja âwie Schulbubenâ vorkommen. Das
1093 Vgl. Bourdieu : WidersprĂŒche des Erbes, S. 656 ; zum âgespaltenenâ bzw. âzerrissenenâ Habi-
tus auch Bourdieu/Wacquant : Reflexive Anthropologie, S. 161. Der âzerrisseneâ Habitus steht
demnach im Konflikt mit der Verwirklichung des durch das Familienerbe geprÀgten Kapitals,
weil die objektiven sozialen Bedingungen dessen adÀquaten Einsatz verhindern.
1094 Vgl. Bourdieu : WidersprĂŒche des Erbes, S. 652, die AusfĂŒhrungen ĂŒber die âWidersprĂŒche
und zweischneidigen ZwÀnge (double binds), die insbesondere aus Unstimmigkeiten zwischen
den Dispositionen des Erben und dem Schicksal, das das Erbe fĂŒr ihn bereithĂ€lt, entstehenâ.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208