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716 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
Ermelinda zwar nicht einmal die Ăbersetzung von Hermine, aber sie hatte das
Recht auf diesen schönen Namen doch eines Tags durch intuitive Eingebung
erworben, indem er plötzlich als höhere Wahrheit vor ihrem geistigen Ohre
standâ (MoE 92 ; vgl. MoE 183).1131 Die von Diotima bei der BegrĂŒndung ih-
rer exotistischen Namenswahl reklamierte âIntuitionâ, deren Geheimnis darin
besteht, âdaĂ man ins Schwarze trifft, wenn man ins Blaue redetâ (MoE 883),
wird von ihr auch bei zahlreichen anderen Gelegenheiten gern als besondere
Gabe beansprucht. Auf diese Weise kann sie eine âEigenschaftlichkeitâ behaup-
ten, die dem von ihr vermittelten Selbstbild gerade fehlt. Die Eigenschaftspro-
blematik wird hinsichtlich der Figur Diotimas ĂŒbrigens auch noch von Ulrich
selbst aufgeworfen : So erweist sich sein âSchluĂ auf Eigenschaftenâ, den er
aufgrund der exponierten sozialen âStellungâ des bĂŒrgerlichen Gatten voll-
zieht, wenn er sich Diotima als ânicht mehr jung, ehrgeizig und mit einem
bĂŒrgerlichen Korsett von Bildungâ imaginiert, wie im Fall des Hauses Tuzzi
ĂŒberhaupt als verfrĂŒht (MoE 92). Der ErzĂ€hler ironisiert hier wieder implizit
die Gefahr vorschneller sozialer Ableitungen.
Habituell ist Diotima geprÀgt durch ihren sozialen Aufstieg von einer An-
gehörigen des âunterenâ BildungsbĂŒrgertums in die höchsten Kreise, die der
kakanischen Bourgeoisie offenstanden ; Voraussetzung dafĂŒr ist ihre Ehe mit
dem karrieretechnisch höchst erfolgreichen Hans Tuzzi :
Sie war die Àlteste von den drei Töchtern eines Mittelschullehrers gewesen, der kein
Vermögen besaĂ, so daĂ ihr Gatte fĂŒr sie schon als gute Partie gegolten hatte, als
er noch nichts als einen unbekannten bĂŒrgerlichen Vizekonsul darstellte. Sie hatte
in ihrer MĂ€dchenzeit nichts gehabt als ihren Stolz, und da dieser hinwieder nichts
hatte, worauf er stolz sein konnte, war er eigentlich nur eine eingerollte Korrektheit
mit ausgestreckten Taststacheln der Empfindsamkeit gewesen. Aber auch eine solche
verbirgt manchmal Ehrgeiz und TrÀumerei und kann eine unberechenbare Kraft sein.
(MoE 97)
TatsĂ€chlich erweist sich Diotimas intransitiver âStolzâ als nicht nur âunbere-
chenbareâ, sondern ĂŒberdies als nicht zu unterschĂ€tzende, weil Ă€uĂerst effek-
1131 Demnach wird ihr Name durch Ulrich âzum dritten Mal verĂ€ndertâ ; vgl. Pekar : Die Sprache
der Liebe, S. 201. In diesem Zusammenhang sei das biografische Detail erwÀhnt, dass Her-
mine der Name von Musils Mutter, seiner Tante vĂ€terlicherseits sowie seiner frĂŒhen Gelieb-
ten Herma Dietz war ; vgl. Corino : Musil [2003], S. 862. Die Namensgebung seiner Figur im
Verein mit deren maliziöser Kommentierung durch den ErzÀhler kann als eine subtile Form
von Rache an der Mutter gedeutet werden ; vgl. Fanta : Die Entstehungsgeschichte des âMann
ohne Eigenschaftenâ, S. 201â211, bes. S. 204.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208