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726 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
Die ideologische Tinktur von Diotimas Idealismus1153 und metaphysischer
Denkweise1154 zielt eindeutig auf die BestÀtigung und Bewahrung der herr-
schenden Moral und hat somit eine stark konservative Schlagseite1155 ; von
einem kreativen âMöglichkeitssinnâ im Sinne Ulrichs oder auch Musils kann
bei ihr keine Rede sein, was aber nicht heiĂt, dass der âan der groĂen bĂŒrger-
lichen Ăberlieferungâ festhaltende Idealismus der SalonniĂšre keine produktive
Potenz entfalten könnte. Im Gegenteil : Nicht nur sein Gehalt, sondern auch
seine gewaltige Kraft wird sowohl bestÀtigt als auch sozialpsychologisch moti-
viert, indem der Beweggrund ihres starken Ehrgeizes wiederum im schwelen-
den Ehekonflikt situiert erscheint :
Diotima war entschlossen, jetzt oder nie ihrem Gatten zu beweisen, daĂ ihr Salon
kein Spielzeug sei. Se. Erlaucht hatte ihr anvertraut, daĂ die groĂe patriotische Aktion
eine krönende Idee brauche, und es war ihr brennender Ehrgeiz, sie zu finden. Die
Vorstellung, mit den Mitteln eines ganzen Reichs und vor den aufmerksamen Augen
der Welt etwas verwirklichen zu mĂŒssen, was einer der gröĂten Kulturinhalte sein
sollte, oder bescheidener eingeschrÀnkt, vielleicht etwas, das die österreichische Kul-
tur in ihrem innersten Wesen zeigen sollte, â diese Vorstellung wirkte auf Diotima, als
ob die TĂŒre ihres Salons aufgesprungen wĂ€re und an die Schwelle schlĂŒge wie eine
Fortsetzung seines FuĂbodens das unendliche Meer. (MoE 106 f.)
1153 Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 267, konstatiert eine âSchwierigkeit
der Abgrenzung zwischen echter und falscher Seelenhaftigkeit, die auch eine zwischen Di-
otima und Ulrich istâ, und versucht, seine konzeptionelle Kritik anhand der Diagnose zu bele-
gen, dass âMusil sowohl die idealistisch aufgeblĂ€hten, scharf kritisierten, als auch die ursprĂŒng-
lichen, nicht negativ bewerteten GefĂŒhle mit Worten aus dem gleichen Fundus beschreibt,
nĂ€mlich aus seinem Exzerpt des Key-Aufsatzesâ. Dabei sitzt er aber der Voraussetzung auf,
dass Musil mit streng dichotomischen Begriffspaaren arbeitet und sich die ideellen Bestre-
bungen seiner Figuren durch den Aufweis eines einflussphilologischen Bezugs jeweils eindeu-
tig ideologiekritisch beurteilen lassen. Die erzÀhlerische Ironie des Mann ohne Eigenschaften
zielt indes gerade auf eine grundsĂ€tzliche ErschĂŒtterung binĂ€rer Strukturen, kontinuierlicher
Begriffe und in sich identischer GedankengebĂ€ude, deren bloĂe Herkunft eben nicht schon
hinlĂ€nglich ĂŒber ihre vom Romantext suggerierte Wertigkeit entscheidet.
1154 Vgl. etwa folgende Information des ErzĂ€hlers : âDiotima war in Fragen, die ihr persönlich
nahegingen, nicht abgeneigt, an ĂŒberirdische Möglichkeiten zu glauben.â (MoE 814)
1155 Ideologiekritisch betrachtet, verschleiert Diotima mit ihrem Idealismus ihre durchaus eigen-
interessegeleitete Akkumulation sozialen Kapitals, was sich symbolisch etwa darin ausdrĂŒckt,
dass es stets gleich um die ganze Nation, um alle Nationen des kakanischen Staats oder gar
um die ganze Menschheit oder die ganze Welt gehen muss (vgl. etwa MoE 94, 174 u. 178),
wĂ€hrend die Bedingung dieser Akkumulation â die soziale Stellung als Ehefrau des Sektions-
chefs Tuzzi â weder ihr noch den SalongĂ€sten zu Bewusstsein kommt.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208