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732 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
eine neue, verÀnderte Einstellung der Frau zum sexuellen Problem : sie verlangt vom
Mann nicht nur ein Tun, sondern ein Tun aus richtiger Erkenntnis des Weiblichen
verlangt sie ! (MoE 884)1169
Des Weiteren fordert Diotima, man mĂŒsse âden Liebespartner, wenn man eine
glĂŒckhafte Umarmung aus ihm herausholen will, als gleichberechtigt gelten las-
sen, und nicht nur als eine willenlose ErgĂ€nzung fĂŒr sich selbstâ (MoE 887).1170
Zuletzt labt sie sich an einer aphoristischen Maxime Lazarsfelds, die in ihrem
ĂŒbertriebenen Pathos dem eigenen IdealisierungsbedĂŒrfnis entgegenkommt, wie-
wohl sie rhetorisch wiederum von einem komisch anmutenden Hiat zwischen
âniedrigemâ Gegenstand und âhohemâ Ton gekennzeichnet ist : âDas Geschlechts-
leben ist kein zu erlernendes Handwerk, es soll uns immer die hohe Kunst blei-
ben, die höchste, die zu erlernen uns im Leben gegeben ist !â (MoE 888)1171
Die solcherart psychologisch-sexualwissenschaftlich gelÀuterte Diotima ge-
langt also zu einer neuen Grundhaltung, wonach ihr der mit Arnheim so heiĂ
ersehnte âEhebruch manchmal [!] als eine viel zu einfache Lösung der eheli-
chen Konflikte erscheintâ (MoE 817). Damit liegt sie allerdings trotz Ulrichs
postwendenden Spotts1172 wohl gar nicht so falsch1173, wenngleich ihr auch
1169 Vgl. Lazarsfeld : Wie die Frau den Mann erlebt, S. 100 f.: âUm nun den Mitmenschen, als
welcher der Liebespartner ja in erster Linie gelten muĂ, kennen lernen zu können, muĂ man
eine gewisse Einsicht haben in alles, was mit dem Geschlechtsleben zusammenhÀngt, denn
am meisten wird hier aus Unkenntnis gesĂŒndigt. Darum haben alle Anleitungen, auch wenn
sie theoretisch nichts endgiltiges [sic] und praktisch nichts allgiltiges [sic] zu geben vermögen,
ihren groĂen Wert und ihre Berechtigung.â Musil exzerpiert relativ frei und zuletzt inhaltlich
arg verkĂŒrzend bzw. sogar entstellend : âUm richtig beobachten zu können, muĂ man eine ge-
wisse Einsicht in das Geschlechtsleben haben. Darum haben auch theoretische Anleitungen
einen groĂen Wert.â (M VII/14/61)
1170 Vgl. Lazarsfeld : Wie die Frau den Mann erlebt, S. 101 : â[I]st sein Wille darauf gerichtet, den
Andern als gleichberechtigt und nicht nur als ErgĂ€nzung fĂŒr sich gelten zu lassen, dann wird
er praktisch leichter das Richtige findenâ. Musil exzerpiert sinngemÀà : â[M]an muĂ den
Liebespartner als gleichberechtigt und nicht nur als ErgĂ€nzung fĂŒr sich gelten lassen.â (M
VII/14/61)
1171 Im Romantext wortidentisch zit. nach Musils Exzerpt (M VII/14/62 ; vgl. M VII/15/70). Vgl.
Lazarsfeld : Wie die Frau den Mann erlebt, S. 105 : âHier muĂ einmal prinzipiell Stellung ge-
nommen werden zu all jenen Sexualanleitungen, die das Geschlechtsleben behandeln, als ob
es ein zu erlernendes Handwerk wĂ€re. Das ist es nicht, und die allgĂŒtige Natur möge gnĂ€digst
verhĂŒten, daĂ es jemals eines werde. Es soll uns immer die hohe Kunst bleiben, die höchste,
die zu erlernen und im Leben gegeben ist.â
1172 Vgl. die unmittelbar folgende Replik : ââEr ist jedenfalls die schonendste !â gab Ulrich zur Ant-
wort und Ă€rgerte sie durch seinen spöttischen Ton. âIch möchte sagen, er schadet auf keinen
Fall.ââ (MoE 817)
1173 Sie fragt zu Recht : âKann man denn das Problem der Liebe lösen, indem man sich scheiden
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208