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733âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
die bewusste Entsagung keine einfache BewÀltigung der Ehekrise verspricht :
âIch lehne Ehebruch als eine zu plumpe Lösung ehelicher Konflikte ab : das
habe ich Ihnen gesagt ! Aber trotzdem : es ist nichts so schwer, wie mit einem
Menschen in ein Schicksal verflochten zu sein, den man nicht genĂŒgend liebt !â
(MoE 818) Die Lazarsfeldâschen Einsichten werden im Romankontext keines-
wegs nur lÀcherlich gemacht, wie es bei oberflÀchlicher Betrachtung scheinen
mag1174 und wie Nike Wagner in Verkennung der MehrdimensionalitÀt von
Musils Ironie behauptet1175 ; sie erlauben es der bisherigen âFrau von gesternâ
vielmehr, die Stellung einer unabhĂ€ngigen âFrau von morgenâ zumindest an-
zustreben. So verleiht die âErinnerung an eins der sie umgebenden BĂŒcherâ
Diotima in Gegenwart des meist spöttischen Cousins Ulrich neue weibliche
SouverĂ€nitĂ€t, die âgleichsam durch Amtsschrankenâ der Wissenschaft gestĂŒtzt
erscheint, aber deshalb nichts an Treffsicherheit einbĂŒĂt, wie ihre situativ
stimmige Wiederaufnahme einer bereits zitierten Formulierung demonstriert :
ââSie begehen den Fehler aller MĂ€nnerâ tadelte sie. âSie behandeln den Liebes-
partner nicht als gleichberechtigt, sondern bloĂ als ErgĂ€nzung fĂŒr Sie selbst
und sind dann enttÀuscht. Haben Sie sich nie die Frage vorgelegt, ob nicht
vielleicht der Weg zu einer beschwingten und harmonischen Erotik nur durch
hĂ€rtere Selbsterziehung fĂŒhre ? !ââ (MoE 820 ; vgl. MoE 883) Ulrich bleibt an-
gesichts solch unerwarteter, aber nicht unberechtigter Vorhaltungen, die sich
direkt auf Lazarsfeld zurĂŒckfĂŒhren lassen1176, âbeinahe der Mund offenâ â und
lĂ€Ăt oder heiratet ? !â (MoE 815) Als Bruch mit der gesellschaftlichen Institution fĂŒr zwischen-
geschlechtliche Liebe löst der Ehebruch nicht deren Problem, sondern allenfalls die dafĂŒr
vorgesehene Form (auf).
1174 Nach Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 269 f., âlĂ€sst sich bei der Ein-
arbeitung des Buches von Lazarsfeld in den Roman keine bewusste EinschÀtzung der gesell-
schaftlichen Bedeutung solcher sexualwissenschaftlicher Bestrebungen und Theorien feststel-
len. Die Funktion der Zitate besteht einzig in der unmittelbar satirischen Wirkung bezĂŒglich
Diotimas, die ihre fehlende Praxis durch Theorien kompensiert und sich zugleich anmasst, der
erfahrenen Bonadea die Wirklichkeit neu zu erklĂ€ren.â WĂ€re es Musil tatsĂ€chlich allein um
die satirische Wirkung zu tun gewesen, dann hÀtte er bei Lazarsfeld leicht noch komischer
anmutende Stellen finden können. BerĂŒcksichtigt man hingegen die konstitutive Spannung
zwischen diskursivem Ideal und romanesker Wirklichkeit und nicht nur die unmittelbaren
ErzÀhleraussagen, dann erlangen die von Diotima rezipierten sexualwissenschaftlichen Be-
strebungen und Theorien durchaus eine soziale Bedeutung im Romankontext.
1175 Wagner : Geist und Geschlecht, S. 92, die Musils Haltung hier nicht nur mit der seines Er-
zĂ€hlers, sondern â viel problematischer noch â auch mit der von Karl Kraus gleichsetzt,
nimmt âeine tiefe AnimositĂ€t des Autors gegen jedweden Positivismus in der Liebe wahrâ
und schlieĂt aus der oben zitierten ironischen ErzĂ€hlerrede, dass Musil allein den Verlust der
religiösen Dimension der âLiebesleidenschaftâ bedauere (vgl. MoE 882).
1176 Lazarsfeld : Wie die Frau den Mann erlebt, S. 3, geht es unter anderem darum, âpraktisch
zurĂŒck zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208