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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld794
er gerÀt zunehmend in ehrliche Verzweiflung angesichts des gegenseitigen
Nicht-Verstehens :
Immer blieb sie das kleine, grausame fĂŒnfzehnjĂ€hrige MĂ€dchen fĂŒr ihn. Niemals hatte
sie sein FĂŒhlen ganz verstanden oder hatte er sie beherrschen können. Aber so kalt
und hart, wie sie war, und dann wieder so begeistert, mit ihrem substanzlos flam-
menden Willen, besaĂ sie eine geheimnisvolle FĂ€higkeit, auf ihn einzuwirken, als ob
StöĂe durch sie hindurch aus einer Richtung kĂ€men, die in den drei Dimensionen
des Raums nicht unterzubringen war. Es grenzte manchmal ans Unheimliche. Na-
mentlich wenn sie gemeinsam musizierten, fĂŒhlte er das. Clarissens Spiel war hart
und farblos, einem ihm fremden Gesetz der Erregung gehorchend ; wenn die Körper
bis zum Durchschimmern der Seele glĂŒhten, kam es erschreckend zu ihm herĂŒber.
Etwas Unbestimmbares riĂ sich dann los in ihr und drohte mit ihrem Geist davon-
zufliegen. Es kam aus einem geheimen Hohlraum in ihrem Wesen, den man Àngst-
lich verschlossen halten muĂte : er wuĂte nicht, woran er das fĂŒhlte und was es war ;
aber es peinigte ihn mit einer unaussprechlichen Angst und dem BedĂŒrfnis, etwas
Entscheidendes dagegen zu tun, was er nicht vermochte, denn niemand auĂer ihm
bemerkte etwas davon. (MoE 62)
Indem der vierunddreiĂigjĂ€hrige Walter sich als unfĂ€hig erweist, Clarisses
MĂŒndigkeit zu statuieren, legt er auch eine als typisch âmĂ€nnlichâ erachtete
Ăberheblichkeit gegenĂŒber der fĂŒnfundzwanzigjĂ€hrigen Frau an den Tag.
Aus seiner eingeschrÀnkten Perspektive ist Clarisse jedoch durch eine höchst
paradoxe Verbindung von MĂ€dchenhaftigkeit und unerbittlicher HĂ€rte ge-
kennzeichnet, was die ihr andernorts sogar vom ErzÀhler zugeschriebenen
Attribute des Maskulinen zu bestÀtigen scheinen (vgl. unten). Walters stark
eigeninteressegeleitete Diagnose hat trotz ihrer affektiven FĂ€rbung sogar eine
gewisse Triftigkeit, denn die oben erörterte spÀtere psychische Erkrankung
Clarisses kĂŒndigt sich dem sensibleren Gatten bereits zu diesem frĂŒhen Zeit-
punkt leise an. Ein fĂŒr ihre âmĂ€nnlicheâ Habitusstruktur charakteristischer Sei-
tenaspekt der mentalen und sexuellen Verweigerungshaltung gegenĂŒber dem
Ehemann ist ihr psychischer Sadismus, der sich etwa in folgendem Dialog
manifestiert : ââWillst du Bier ?â â âJa ? Warum nicht ? Ich trinke doch immer
eins.â / âAber ich habe keines im Haus !â / âSchade, daĂ du mich gefragt hastâ
seufzte Walter. âIch hĂ€tte vielleicht gar nicht daran gedacht.â / Damit war die
Frage fĂŒr Clarisse erledigt.â (MoE 63 f.) Das gezielte Auslösen eines Wun-
sches, von dem sie weiĂ, ihn nicht erfĂŒllen zu können, entspricht strukturell
der von Bourdieu als âmĂ€nnlichâ diagnostizierten sadistischen Freude an der
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208