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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld796
von Musil schon um 1900 unter dem Stichwort âdĂ©cadenceâ ins Arbeitsheft 4
exzerpierte (vgl. Tb 1, 28) Passage aus Nietzsches Der Fall Wagner, worin es
heiĂt :
Das SchÀdliche als schÀdlich empfinden, sich etwas SchÀdliches verbieten können ist
ein Zeichen noch von Jugend, von Lebenskraft. Den Erschöpften lockt das SchÀd-
liche : den Vegetarier das GemĂŒse. Die Krankheit selbst kann ein Stimulans des Le-
bens sein : nur muss man gesund genug fĂŒr dies Stimulans sein ! â Wagner vermehrt
die Erschöpfung : deshalb zieht er die Schwachen und Erschöpften an.85
Der Bezug auf Nietzsches Àsthetische Décadence-Diagnose ist hier nicht zu
ĂŒbersehen.86 Entsprechendes gilt fĂŒr Clarisses Polemik gegen die Vermengung
von Moral und Kunst bzw. gegen eine moralisch infizierte Kunst ; sie stellt fest :
âWas meinst du dazu ? Nietzsche behauptet, daĂ es ein Zeichen von SchwĂ€che
ist, wenn sich ein KĂŒnstler zuviel mit der Moral seiner Kunst beschĂ€ftigt ?â
(MoE 49) TatsĂ€chlich heiĂt es in Nietzsches Nachlass der achtziger Jahre (zu-
mindest in den seinerzeit kursierenden Ausgaben) : âUnsre Religion, Moral
und Philosophie sind dĂ©cadence-Formen des Menschen. / â Die Gegenbewe-
gung : die Kunst.â87 Als Konsequenz aus diesem Befund88 fordert der hĂ€reti-
sche Philosoph : âMit der Kunst gegen die Vermoralisierung kĂ€mpfen. â Kunst als
Freiheit von der moralischen Verengung und Winkel-Optik ; oder als Spott
85 Nietzsche : Der Fall Wagner, S. 22. Nietzsches unterschiedliche Formen der Hervorhebung
(Sperrungen, Kursivsetzungen und Fettdruck) werden hier und im Folgenden einheitlich kursi-
viert.
86 Vgl. dazu insgesamt und erschöpfend Neymeyr : Psychologie als Kulturdiagnose, S. 107â200,
bes. S. 189 ff.
87 Nietzsche : Aus dem NachlaĂ der achtziger Jahre, S. 717 ; in der Kritischen Studienausgabe
konnte ich diese Stelle nicht nachweisen.
88 Vgl. auch die StreifzĂŒge eines UnzeitgemĂ€Ăen aus der Götzen-DĂ€mmerung, worin es unter dem
Stichwort âLâart pour lâartâ heiĂt : âDer Kampf gegen den Zweck in der Kunst ist immer der
Kampf gegen die moralisirende Tendenz in der Kunst, gegen ihre Unterordnung unter die Moral.
Lâart pour lâart heisst : âder Teufel hole die Moral !â â Aber selbst noch diese Feindschaft ver-
rĂ€th die Ăbergewalt des Vorurtheils.â (Nietzsche : Götzen-DĂ€mmerung, S. 127) In die skizzierte
Richtung der kĂŒnstlerischen Moralfreiheit deutet auch Jenseits von Gut und Böse, Achtes Haupt-
stĂŒck : âVölker und VaterlĂ€nderâ : âIch könnte mir eine Musik denken, deren seltenster Zauber
darin bestĂŒnde, dass sie von Gut und Böse nichts mehr wĂŒsste, nur dass vielleicht irgendein
Schiffer-Heimweh, irgend welche goldne Schatten und zĂ€rtliche SchwĂ€chen hier und da ĂŒber
sie hinwegliefen : eine Kunst, welche von grosser Ferne her die Farben einer untergehenden, fast
unverstĂ€ndlich gewordenen moralischen Welt zu sich flĂŒchten sĂ€he, und die gastfreundlich und
tief genug zum Empfang solcher spĂ€ten FlĂŒchtlinge wĂ€re.â (Nietzsche : Jenseits von Gut und
Böse, S. 201)
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208