Seite - 801 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Bild der Seite - 801 -
Text der Seite - 801 -
âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 801
Aroma vergegenwĂ€rtigte und zugleich an Diotima dachte, ĂŒber deren groĂer
OberflĂ€che ein dĂŒnner Pudergeruch lag, der nichts zu verdecken schien, so
kam man zu GegensÀtzen der Leidenschaft, denen das etwas komische wirk-
liche Zusammenleben dieser beiden Personen in keiner Weise zu entsprechen
schien.â (MoE 414) Der groĂe Unterschied in Stilfragen zeigt sich auch da-
rin, dass Diotima den recht gewöhnlichen deutschen Vornamen ihres Mannes
nicht akzeptiert â âTuzzi hieĂ Hans, aber er wurde aus StilgrĂŒnden zu seinem
Nachnamen passend [in Giovanni, N. C. W.] umgetauftâ (MoE 334) â, wĂ€h-
rend Tuzzi darauf beharrt, âweiterhin Hans und nicht Giovanniâ zu heiĂen
(MoE 92).
WĂ€hrend der ersten Jahre der gemeinsamen Ehe scheint sich die ĂŒber-
kommene Geschlechterordnung noch unversehrt in Kraft zu befinden : âSeine
Ăberlegenheit ĂŒber Diotima war anfangs und durch lange Zeit die des Ă€lte-
ren Mannes gewesen ; spÀter kam noch die des erfolgreichen Mannes in ge-
heimnisvoller Stellung dazu, der seiner Frau wenig Einblick in sich gewÀhrt
und den Nichtigkeiten, die sie treibt, mit Wohlwollen zusieht.â (MoE 104)
Der nach den damaligen Usancen um einige Jahre Àltere Tuzzi102 wird hier
als wohlwollend-gönnerhafter und gleichwohl unergrĂŒndlicher vĂ€terlicher
Gemahl gezeichnet, der die AktivitĂ€ten seiner Gattin nur als âNichtigkeitenâ
begreifen kann. Seine ernste und strenge Erscheinung hatte âdie Seele des
MĂ€dchens Diotimaâ zunĂ€chst Ă€hnlich erregt âwie die NĂ€he des Herrn die des
Jagdhunds, der die Schnauze auf sein Knie legt. Und so wie dieser gefĂŒhlhaft
umfriedet hinterdreintrabt, hatte auch Diotima unter ernster, sachlicher FĂŒh-
rung die unendliche Landschaft der Liebe betreten.â (MoE 104) In sexueller
Hinsicht scheint zwischen den beiden Verheirateten also zunÀchst eindeutig
ein Herr-Knecht-VerhÀltnis vorzuherrschen, das einer Entfaltung der weibli-
chen BedĂŒrfnisse wenig bis gar keinen Raum lĂ€sst.103
102 Vgl. Sieder : Sozialgeschichte der Familie, S. 133 f.: âDie Notwendigkeit, eine berufliche Aus-
bildung zu durchlaufen und die ersten Jahre der beruflichen Karriere noch als Junggeselle zu
verbringen, fĂŒhrte zu einem relativ hohen Heiratsalter der MĂ€nner. Beamte bedurften einer
gewissen Dienstzeit und einer Heiratserlaubnis ihrer vorgesetzten Dienststelle. Ihr Heiratsal-
ter lag daher hĂ€ufig ĂŒber dem 30. Lebensjahr. [âŠ] DemgegenĂŒber lag das Heiratsalter ihrer
Frauen deutlich unter dem ihren.â
103 Vgl. ebd., S. 134 : âAllein ein derartiger Altersvorsprung des Mannes lĂ€Ăt schon ein deutliches
AutoritÀtsgefÀlle vermuten. Mitunter soll das AltersverhÀltnis zwischen Mann und Frau dem
zwischen zwei Generationen entsprochen haben : das Muster der Vater-Tochter-Beziehung
drĂ€ngt sich auf. Der Mann war âlebenserfahrenâ, hatte sein Studium abgeschlossen, hatte schon
einiges âvon der Welt gesehenâ, wĂ€hrend das MĂ€dchen âaus dem behĂŒteten SchoĂâ seiner Fami-
lie kam. Dies begĂŒnstigte, daĂ der Mann die Familie in der Ăffentlichkeit vertrat, wĂ€hrend die
Frau im Haus âreprĂ€sentierteâ.â
zurĂŒck zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208