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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld812
bewundernswerte, aber auch fanatische und ungeheure, mit der menschlichen Natur
geborene Trieb sich mit zehn Minuten Lebensphilosophie oder Aussprache ĂŒber die
grundsĂ€tzlichen Fragen des Hauswesens begnĂŒgen muĂ, so ist es unvermeidlich, daĂ
er wie ein Tropfen glĂŒhenden Bleis in ungezĂ€hlte Spitzen und Zacken zerplatzt, die
auf das schmerzhafteste verwunden können. Er zersprang an der Frage, ob ein Haus-
mÀdchen zu entlassen sei oder nicht, und ob Zahnstocher auf den Tisch gehören oder
nicht ; aber woran immer er zersprang, besaĂ er die FĂ€higkeit, sich sofort zu zwei, an
Einzelheiten unerschöpflich reichen Weltanschauungen zu ergÀnzen. (MoE 205)
Klementine wird zunehmend âspitz und unnachgiebigâ (MoE 205), was Musil
wiederum soziologisch mit ihrem erworbenen Habitus als Beamtentochter
motiviert und am Beispiel eines quÀlenden ehelichen Sexuallebens veran-
schaulicht.122 Demnach
duldete ihr StandesbewuĂtsein nicht getrennte SchlafrĂ€ume, um die ohnehin unzu-
reichende Wohnung nicht noch mehr zu verkleinern. Gemeinsame SchlafrÀume aber
bringen einen Mann, wenn sie verfinstert sind, in die Lage eines Schauspielers, der
vor einem unsichtbaren Parkett die dankbare, aber schon sehr abgespielte Rolle eines
Helden darstellen muĂ, der einen fauchenden Löwen vorzaubert. Seit Jahren hatte
sich Leos dunkler Zuschauerraum dabei weder den leisesten Applaus noch das ge-
ringste Zeichen von Ablehnung entschlĂŒpfen lassen, und man darf sagen, daĂ das die
stĂ€rksten Nerven erschĂŒttern konnte. (MoE 205)
Nach solchen gemeinsam verbrachten NĂ€chten ist sie âsteif wie eine gefrorene
Leiche und Leo zuckend von Empfindlichkeitâ (MoE 205). Der Grund dafĂŒr
liegt in einer vollkommenen emotionalen AbkĂŒhlung : âSeit Klementine Leo
nicht mehr schön fand, fand sie ihn unertrÀglich, und seit Leo sich von Klemen-
tine angezweifelt fĂŒhlte, erspĂ€hte er bei jedem AnlaĂ eine Verschwörung in sei-
nem Haus.â (MoE 206) In dieser vergifteten Ehe ist die Wirkung des in der Ge-
sellschaft grassierenden antisemitischen Diskurses sowie der ĂŒberindividuellen
MachtverhÀltnisse im sozialen Raum auf individuell geformte Akteure, ja auf die
intimsten Wahrnehmungs- und Deutungsmuster aus der NĂ€he zu beobachten,
die âTrennung von Politik und IntimsphĂ€reâ wird bereits hier â lange vor dem
staatlichen Totalitarismus der dreiĂiger Jahre â âaufgehobenâ.123 Musils ErzĂ€h-
122 Vgl. Pekar : Die Sprache der Liebe, S. 233 ; zu den historischen Implikationen Hanisch : MĂ€nn-
lichkeiten, S. 170â179.
123 So Hanisch, ebd., S. 216, mit Blick auf die ârassistische Volksgemeinschaftâ des Nationalsozialis-
mus.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208