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„Die falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaft“ 853
derstehlich von der Unentschlossenheit einer Seele angezogen fühlt, die von
ihrem eigenen Körper mitgeschleift wird wie ein Gefangener in den Armen
seiner Häscher“ (MoE 618). Die von der stets reflektierenden Erzählstimme
bemühten Vergleichsgrößen verheißen allerdings nichts Gutes, erregen bei
den Lesern und Leserinnen zumindest kaum Empathie für den so rücksichts-
los verfahrenden Helden, wenngleich dieser sich in seinem Handeln immer
wieder an einschlägigen erotischen Topoi der Literatur zu orientieren scheint :
„Er küßte sie langsam überall hin auf die freie Fläche zwischen Kopfhaar und
Kleid“ (MoE 618).
Musil verwendet Versatzstücke des konventionellen Beginns einer Verfüh-
rungsszene, deren Stereotypie er allerdings darstellerisch konsequent durch
die hartnäckige Thematisierung gegenläufiger Motive konterkariert : So muss
Ulrich „dabei einen leichten Widerwillen überwinden, bis auf die Berührung
ihrer Lippen, die den seinen in einer Weise entgegenkamen, die ihn an die
schwachen Ärmchen gemahnte, mit denen ein Kind den Nacken eines Er-
wachsenen umschlingt“ (MoE 618). Ständig geraten ihm solche störenden
Bilder in den Sinn, die den für einen geglückten Liebesakt nötigen Aufbau
einer projektiv stimmigen Atmosphäre massiv behindern und dem Verführer
vielmehr die Flucht nahelegen. Ein anderer störender Aspekt ist inhaltlicher
Art, denn Gerdas Mitteilung über die geheimen Absichten Arnheims, die gali-
zischen Ölfelder „unter die Kontrolle seines Konzerns“ zu bringen (MoE 616),
die den Vorwand für ihren unangekündigten Besuch bildet, ändert die Befind-
lichkeit Ulrichs radikal : Nach der „Mitteilung über Arnheim“ spürt er, „daß
etwas Wichtiges vor ihm liege“ (MoE 620) – er fühlt sich verantwortlich für
seine verratene Cousine Diotima und will sie „warnen“ (MoE 619). Dennoch
lässt er sich in seinen verführerischen Absichten gegenüber Gerda nicht beir-
ren :
Ulrich […] hatte ihr seinen Arm wieder um die Schulter gelegt, weil er […] fühlte,
daß […] dieses Beisammensein mit Gerda zu einem Ende geführt werden müsse. Er
empfand nichts anderes dabei, als daß es außerordentlich unangenehm sei, alles das
durchführen zu müssen, was dazu gehöre, und darum schlang er den zurückgewie-
senen Arm sogleich noch einmal um sie, aber diesmal mit jener stummen Sprache,
die ohne Gewalt und eindringlicher als Worte ankündigt, daß jeder weitere Wider-
stand vergeblich sei. (MoE 620)
Das unausgesprochene Ziel von Ulrichs eigenartig ambivalentem Empfinden
und Handeln ist offenbar eine definitive Entscheidung des ungeklärten Ver-
hältnisses zwischen den beiden ; er möchte die nach wie vor im Raum ste-
zurück zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRÄFTEFELD
- 1. „Versuchsstation des Weltuntergangs“ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. „Zeitfiguren“ 1913/1930 „am gesellschaftlichen Schachbrett“ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) – Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als ‚Antiessayismus‘ : Der Funktionär Tuzzi (489) – Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und ‚Jude‘ 501
- Ein trojanisches Pferd des Militärs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte ‚Eigenschaftlichkeit‘ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist Schmeißer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem „Geiste des Expressionismus“ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte ‚Eigenschaftlichkeit‘, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. „Die falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaft“ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der Geschlechteridentitäten : Die „Träger des Zeit- wandels“ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen „Zwangsherrschaft“ zur wissenschaftlichen Eheführung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche Verhältnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der ‚schönen Seele‘ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als „Lustselbstmord“ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frühes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe à la hausse, platonische „Begegnung zweier Berggipfel“ : Diotima und Arnheim 908
- Die „letzte Liebesgeschichte“ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne Männerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, Preußen gegen Österreich 1005
- Der Intellektuelle und der Großschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte „Exponenten des Zeitgeistes“ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- Bildungsbürger contra Kleinbürger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- Bildungsbürger contra Proletarier : Ulrich und Schmeißer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- Sekundärliteratur zu Musil 1193
- Register 1208