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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 857
einem gewaltigen Ekel, den er vor dem âfremden Körperâ der jungen Frau
und vor sich selbst empfindet. Die Fortsetzung des begonnenen Geschlechts-
akts kostet ihn enorme intellektuelle SelbstĂŒberwindung, wie der kritische Er-
zÀhlerbericht verrÀt :
So kam es, daĂ er sich in verzweifelter Eile alles einredete, was es heute an allgemei-
nen GrĂŒnden gibt, um sich ohne Ernst, ohne Glauben, ohne RĂŒcksicht und ohne
Befriedigung zu betragen ; und er fand darin, daĂ er sich dem ohne Widerstand ĂŒber-
lieĂ, zwar nicht die Ergriffenheit der Liebe, wohl aber eine halb verrĂŒckte, an ein
Gemetzel, einen Lustmord, oder wenn es das geben kann, einen Lustselbstmord
erinnernde Ergriffenheit von den DĂ€monen der Leere, die hinter allen Bildern des
Lebens zuhause sind. / Seine Lage erinnerte ihn mit einemmal durch einen unklaren
Zusammenhang an seinen nÀchtlichen Kampf mit den Strolchen, und er wollte dies-
mal schneller sein [âŠ]. (MoE 622)
Der von Ulrich selbst bemĂŒhte explizite Vergleich mit der nĂ€chtlichen SchlĂ€ge-
rei auf der StraĂe vom Romananfang und mehr noch die implizite Analogie zu
Moosbruggers Prostituiertenmord229 (vgl. MoE 67â76) oder die eine komplette
Selbstaufgabe suggerierende Rede vom âLustselbstmordâ230 tragen das Ihre
dazu bei, sein Verhalten zu desavouieren.231 ErgÀnzt wird die somit durchaus
vorhandene Qualifizierung durch die ausdrĂŒckliche ErwĂ€hnung des ErzĂ€hlers,
dass Ulrich dabei auf Ernst, Glauben, RĂŒcksicht und Befriedigung pfeife. Ganz
anders geht es wiederum der vom Geschehen ĂŒberwĂ€ltigten jungen Frau :
Gerda hatte alles, was sie ĂŒberhaupt in sich erreichen konnte, zu Willen gemacht
und dazu verwendet, die schmÀhliche Angst niederzuhalten, die sie litt ; es war ihr
zumute, als sollte sie hingerichtet werden, und in dem Augenblick, wo sie Ulrich in
229 Vgl. Neymeyr : Psychologie als Kulturdiagnose, S. 235.
230 Nach Krafft-Ebing : Psychopathia sexualis, S. 124, ist die Wunschvorstellung des âpassiven
Lustmord[es]â eine Steigerungsform der âperversen GelĂŒste des Masochistenâ im Sinne eines
âsymbolischen Masochismusâ.
231 Nach Laermann : Eigenschaftslosigkeit, S. 34, âintensiviert der Ekel vor einer [âŠ] Vereinigung,
deren MiĂlingen beiden vorher bewuĂt ist [?], in Ulrich einen sadistischen Racheimpuls, der
nun seinen Widerstand zusammenbrechen lĂ€Ăt. Da die GefĂŒhlsbarriere des Ich, die gegen die
Objekte Schutz bieten sollte, zerbricht, beginnt psychisch ein âGemetzelâ, das nicht nur zu-
gleich mit der Versagung das Objekt zerstören, sondern um den Preis der Selbstzerstörung
auch die Versagung beseitigen soll, unter der das Ich leidet.â Die kritische Analyse kulminiert
im essenzialistischen Rekurs auf die negativ gedeutete Thematik der âEigenschaftslosigkeitâ :
âZerstörung und Selbstzerstörung konvergieren im Nichts ; einzig in ihm ist dem Eigenschafts-
losen eine Vereinigung möglich.â
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208