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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 865
Das ungreifbare Etwas an Vermeidlichkeit, das mit dem Entsetzlichen verbunden
war, hieĂ ihn daran denken, daĂ ein jĂŒngerer Mann vielleicht versuchen wĂŒrde, noch
weiter auf Gerda einzudringen. âVielleicht kĂ€me man so darĂŒber wegâ dachte er. âViel-
leicht darf man ihr gerade nicht nachgeben, nachdem sich die dumme Gans einmal
zu weit eingelassen hat !â Er tat nichts davon, aber solche Ă€rgerlichen Gedanken fuh-
ren kreuz und quer [âŠ]. (MoE 623)
Im Augenblick der gröĂten Not vermischen sich sadistische RachegelĂŒste
und medizinische Diskurspartikel in Ulrichs Psyche zu einem unentwirrbaren
KnÀuel, aus dem er nur durch den Fortgang der Handlung befreit wird :
Endlich lieà aber der Anfall von selbst nach, und der Körper beruhigte sich. Die Au-
gen des MĂ€dchens wurden feucht, es setzte sich im Bett auf, die kleinen BrĂŒste hin-
gen matt an seinem vom BewuĂtsein noch nicht wieder beaufsichtigten Leib, und Ul-
rich fĂŒhlte aufatmend noch einmal die ganze Abneigung gegen das Unmenschliche,
nur Körperliche des Erlebnisses, das er hatte ĂŒberstehen mĂŒssen. (MoE 623)
An dieser Passage verstört wiederum mehrerlei : zum einen die ausfĂŒhrliche,
sachlich-nĂŒchterne, gleichsam klinische Beschreibung unĂ€sthetischer Details
von Gerdas Körper, die ohne jede erzÀhlerische Dezenz ausgebreitet werden,
zum anderen die BeschrÀnkung der durchaus vorhandenen erzÀhlerischen
Empathie auf Ulrichs Erlebnis des hysterischen Anfalls, auf seine Erfahrung
von dessen bloĂer KreatĂŒrlichkeit. Vom Leiden der jungen Frau ist hingegen
keine Rede. Hier scheint allerdings eine Differenzierung nötig : Eine genauere
LektĂŒre von Musils Darstellung fĂŒhrt wohl kaum zum Ergebnis, dass Ulrich
âzwar Grauenâ empfinde, aber jede âBetroffenheitâ und jedes MitgefĂŒhl sofort
abwehre, wie SchĂ€rer behauptet258, oder dass er sich weigere, âsich um die
Opfer seiner Launen wirklich zu kĂŒmmernâ, wie auch Howald in diesem Zu-
sammenhang meint259 ; es heiĂt im Romantext vielmehr ausdrĂŒcklich : âUlrich
wuĂte nichts Besseres, als noch einmal alles zu wiederholen, was er ihr schon
zugeflĂŒstert hatte ; er legte den Arm um ihre Schulter, zog sie tröstend an seine
Brust und bat sie, sich nichts aus dem Geschehenen zu machen.â (MoE 624)
Aus solchem Verhalten spricht eher Hilf- als Schamlosigkeit. Deutlicher noch
wird Ulrichs schlechtes Gewissen, sein BemĂŒhen um Wiedergutmachung,
wenn es an der Kontrastfolie gemessen wird, die die (nur als Nachlassentwurf
ĂŒberlieferte) tatsĂ€chliche Vergewaltigung Clarisses durch Walter darstellt : Dort
258 SchĂ€rer : NarziĂmus und Utopismus, S. 40.
259 Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 322.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208