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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld866
empfindet der Vergewaltiger zwar schon wĂ€hrend der Tat âReueâ, lĂ€sst sich
aber vom âlangen, schrillen, eintönigen Schreiâ seiner Ehefrau nicht abbringen,
sondern verschĂ€rft âzornig seine BemĂŒhungenâ (MoE 1494).
Trotz dieser bezeichnenden Differenzen wird Ulrichs problematisches
Vorgehen vom ErzÀhler keineswegs gebilligt, wie aus dessen bereits zitier-
ten sowie weiteren Bemerkungen hervorgeht, die noch diskutiert werden sol-
len. Auch Gerda ist sich nach der Wiedererlangung ihres Bewusstseins ĂŒber
die Verfehlung Ulrichs im Klaren : â[O]bgleich es ihr nicht entging, daĂ die
Stimme Ulrichs jetzt zĂ€rtlicher klang, bezog sie das darauf, daĂ sie nun fĂŒr
ihn eine Kranke sei, und dachte, daĂ er sie krank gemacht habeâ (MoE 624).
Wenn es nun aber zwischen dem reflektierenden ErzÀhler und den meisten
seiner (mĂ€nnlichen und weiblichen) Leser keinen wirklichen Dissens ĂŒber die
insgesamt kritische Beurteilung von Ulrichs misogynem Verhalten geben wird,
dann haben die beschriebene Szene und ihre narrative Inszenierung ganz of-
fenbar eine noch zu ergrĂŒndende romanstrukturelle Funktion. Darauf wird
zurĂŒckzukommen sein. ZunĂ€chst sind aber die medientechnischen Hinter-
grĂŒnde der detaillierten Hysteriedarstellung Musils zu diskutieren.
Friedrich A. Kittler hat in seiner anregenden popwissenschaftlichen Ab-
hand lung Grammophon Film Typewriter darauf hingewiesen, dass die â[w]un-
der sa me[n] Ekstasen, Zuckungen ohne Ende, bis ins Zirzensische verrenkte[n]
Gliederâ der Hysteriker erst durch die technischen Mittel der Fotografie und
Kinematografie in ihre einzelnen Elemente auflösbar und sodann sprachlich
beschreibbar wurden.260 So habe Albert Londe, der Cheftechniker des be-
rĂŒhmten Pariser Psychiaters Jean-Martin Charcot, den sogenannten âGroĂen
Hysterischen Bogenâ 1883 mit Serienbelichtungskameras gleichsam âzer-
260 Kittler : Grammophon Film Typewriter, S. 212. Ăhnlich argumentiert Schuller : Hysterie als Ar-
tefaktum. Eine kontrÀre, geradezu anti-medientheoretische These vertritt hingegen Didi-Hu-
berman : Ăsthetik und Experiment bei Charcot, indem er am Beispiel von Fotografien der von
Charcot untersuchten CĂ©lina M. zeigt, dass trotz aller âBeweisstĂŒcke und Differenzierungen,
die der Text vorausschicktâ, letztlich âgar nichts gezeigtâ bzw. âsichtbar vor Augenâ gefĂŒhrt
wird (S. 285), oder, mit anderen Worten, âdaĂ CĂ©lina ein eindeutig bestimmtes Bild von ihrem
Körper nicht möglich macht, weil sie nie die sogenannten attitudes passionelles âdarbietetâ â jene
genau fixierten und expressiven Momente des Anfalls, auf deren Grundlage sich die photo-
graphische Ikonographie vor allem aufbaute. CĂ©lina gibt nur unlogische Bewegungen preis
(wie Charcot selbst sagt)â ; sie ist demnach auch mit den damals avanciertesten technischen
Mitteln ânicht reproduzierbar, nicht zu photographierenâ (S. 288 f.). Mehr noch : â[B]etrachtet
man [âŠ] die klinischen Skizzen zu den âdĂ€monischen Krisenâ, die in der SalpĂȘtriĂšre angefertigt
wurden, einmal genauer, so bemerkt man, daĂ sie mehr der barocken Malerei [eines Rubens,
N. C. W.] Ă€hneln als dem, was auf CĂ©linas Photographien selbst zu sehen ist.â (S. 294 f.)
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208