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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 871
emplifiziert wird. Seine latente Aggression befindet sich in einer Analogie zur
vermeintlichen SouverÀnitÀt des Kamerablicks, wÀhrend sich bei Gerda in der
mangelnden Ăbereinstimmung mit dem Spiegelbild, also in der Tatsache, dass
ihr das eigene Spiegelbild kein Ideal mehr bietet, nur masochistisch der Zerfall
ihrer SubjektivitĂ€t andeutet. Die unerfreuliche GroĂaufnahme ihres Körpers
wird dann zwar von einem Kameraschwenk durch Ulrichs Zimmer abgelöst,
der zumindest fĂŒr kurze Zeit Ablenkung verschafft : âUnd plötzlich, so wie bei
UnglĂŒcksfĂ€llen der Blick oft eine ĂŒberempfindliche AufnahmefĂ€higkeit fĂŒr al-
les Gleichzeitige hat, sah sie das geschlossene MĂ€nnerschlafzimmer mit allen
seinen Einzelheiten rings um sich.â (MoE 621) Doch auch diese Wahrneh-
mung bringt Gerda keine Linderung ihrer Qual.
Zuletzt spielen bildliche Momente beim abschlieĂenden Showdown eine
bezeichnende Rolle : âGerda schlĂŒpfte wie ein Knabe ins Bett. Ulrich sah ei-
nen Augenblick lang die Bewegung eines nackten jungen Menschen ; es hatte
mit Liebe nicht mehr zu tun wie [sic] das Aufblinken eines Fisches.â (MoE
621) Das Bild des aufblinkenden Fisches ist im Romankontext eindeutig ero-
tisch assoziiert und hat einen stark sadistischen Akzent274 â etwa wenn Ulrich
einmal einer fremden Frau âganz mechanisch als Folge der BerĂŒhrung durch
ihren Blickâ folgt : âEr sah ihre Gestalt unter dem Kleid wie einen groĂen wei-
Ăen Fisch vor sich, der nahe der WasseroberflĂ€che ist. Er wĂŒnschte sich, ihn
mÀnnlich zu harpunieren und zappeln sehen zu können, und es lag darin eben-
soviel Abneigung wie Verlangen.â (MoE 877) Die prekĂ€re geschlechtsspezifi-
sche Codierung des beschriebenen Begehrens wird vom ErzĂ€hler ausdrĂŒcklich
benannt und als ungelöstes Problem des Protagonisten Ulrich thematisiert.275
274 Vgl. im nachgelassenen Vergewaltigungskapitel zu Walter und Clarisse : âHalbnackt, schlĂŒpfrig
wie ein zappelnder Fisch kĂ€mpfte sie in den Armen ihres Gatten.â (MoE 1493)
275 Vgl. dazu die klassisch-psychoanalytische Deutung bei Laermann : Eigenschaftslosigkeit, S. 34,
die freilich von einer positiven Anthropologie bzw. von einem in sich konsistenten Subjektbe-
griff ausgeht und damit Musils âGestaltlosigkeitstheoremâ nicht gerecht wird : âIn dieser Regung
vermischt sich Begierde, die die Vereinigung mit einem Objekt will, und sei es um den Preis
von dessen Zerstörung, mit Abscheu, der eben diese Vereinigung abwehrt, weil sie die Einheit
des Ich zerstören wĂŒrde. Denn die pervertierte Vereinigung, die als sadistische Rache das Ob-
jekt trifft, trifft nicht die Versagung, gegen die sie sich wendet. Sie wiederholt das Verbotene als
Verbotenes, obwohl das Ich vorgibt, es als solches nicht anzuerkennen. Doch auch die perver-
tierte Vereinigung unterliegt dem internalisierten Verdikt, das jede Vereinigung als GefÀhrdung
der IntegritĂ€t des Ich erscheinen lĂ€Ăt. Um seine leere Einheit aufrechtzuerhalten, muĂ das Ich
stÀndig tun, was ihm versagt wurde, und muà es in genau der Weise tun, in der es ihm ver-
sagt wurde. Denn die eigenschaftslose Einheit, die es sadistisch verteidigt, ist das Ergebnis der
Versagung, die es beseitigen will. Diese Beseitigung aber kann es nur in der Selbstzerstörung
erreichen, in der es ineins mit der Versagung sich selbst als deren Garanten zerstört.â
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208