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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld886
ist ein viel zu mildes Bild ; er preĂt sich in ihre Hohlform, mĂŒĂte es heiĂen. Die
gesellschaftliche Organisation gibt dem Einzelnen ĂŒberhaupt erst die Form des
Ausdrucks, und durch den Ausdruck wird erst der Mensch.â (GW 8, 1370) Mit
anderen Worten : âGerade die Ungestalt seiner Anlage nötigt den Menschen,
sich in Formen zu passen, Charaktere, Sitten, Moral, Lebensstile und den gan-
zen Apparat einer Organisation anzunehmen.â (GW 8, 1374) Wenn sich ein
Mensch nun in die vorfindlichen gestaltgebenden Formen, das heiĂt vor allem
in den gegebenen gesellschaftlichen âRahmenâ, aus bestimmten GrĂŒnden nicht
einfĂŒgen kann, dann resultiert daraus dessen subjektives Empfinden von Sinn-
und Bezugslosigkeit und mithin existenzieller Einsamkeit. Symptom und Spie-
gel dieser eigentĂŒmlichen Fremdheit, die Ulrich in der ihn umgebenden Welt
empfindet, ist sein problematisches VerhĂ€ltnis zum âanderenâ Geschlecht. Die
Wiederholungsstruktur, die sich wÀhrend des gesamten Ersten Buchs in seinem
Unvermögen Ă€uĂert, âmit Menschen in Beziehungen zu kommenâ (Tb 1, 597)
â insbesondere mit weiblichen â, entspringt offenbar keineswegs bloĂ einer un-
bewussten mÀnnlich-sadistischen Disposition des Autors Musil, sondern wird
vom ErzĂ€hler ausdrĂŒcklich diegetisch inszeniert ; so heiĂt es mit Blick auf die
noch zu diskutierende frĂŒhe Liebe Ulrichs zur âFrau Majorâ schon recht bald
mit aller wĂŒnschenswerten Klarheit : âAlle seine Beziehungen zu Frauen waren
seither unrecht gewesenâ (MoE 284). An spĂ€terer Stelle wird der ErzĂ€hler noch
deutlicher :
Er war trotz der Kraft seiner Seele keineswegs immer frei von den Vorurteilen, die
sein Geist verwarf, da er zu oft sein Leben hatte gehen lassen, wie es wollte, und
seinen Geist anders. Und weil er seinen EinfluĂ auf Frauen zu oft mit der Lust eines
JĂ€gers am Fangen und Beobachten ausgenutzt und miĂbraucht hatte, war ihm fast
immer auch das dazugehörende Bild begegnet, worin die Frau das Wild ist, das unter
dem Liebesspeer des Mannes zusammenbricht, und es saĂ ihm die Wollust der De-
mĂŒtigung im GedĂ€chtnis, der sich die liebende Frau unterwirft, wĂ€hrend der Mann
von einer Àhnlichen Hingabe weit entfernt ist. (MoE 683 f.)
Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die offene Kritik an der fehlen-
den Bereitschaft oder FĂ€higkeit Ulrichs zur liebevollen âHingabeâ, die zudem
ausdrĂŒcklich mit der âmĂ€nnliche[n] Machtvorstellung von der weiblichen
SchwĂ€cheâ in Verbindung gebracht wird, welche âheute noch recht gewöhn-
lichâ sei, âobwohl mit den einander folgenden Wellen der Jugend daneben
neuere Auffassungen entstanden sindâ (MoE 684). Unter den hier angespro-
chenen, in der romanesken Gesellschaft allenthalben kursierenden âneueren
Auffassungenâ des GeschlechterverhĂ€ltnisses wie auch des menschlichen
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208