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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld898
ihr Ulrich mit dĂŒrftig erfundenen BegrĂŒndungen eines Tages mitteilte, daĂ er einen
langen Urlaub antreten mĂŒsse, atmete die Offiziersfrau unter ihren TrĂ€nen auf. (MoE
124)
Im Unterschied zu den durchaus weltlichen, aber dennoch höchst romanti-
schen TrĂ€umen, WĂŒnschen und BedĂŒrfnissen einer Emma Bovary legt die
namenlos bleibende Frau Major ein sichtlich weniger romantisches, stÀrker
an den sozialen Erfordernissen ihrer gesellschaftlichen Stellung ausgerichtetes
Verhalten an den Tag. Aus ganz anderen Motiven drÀngt auch Ulrichs eigen-
willige, seltsam unbeteiligte, ja teilnahmslose Leidenschaft nicht nach dem
körperlichen Besitz des Liebesobjekts339, im Gegenteil :
Ulrich [âŠ] hatte damals schon keinen anderen Wunsch mehr, als vor lauter Liebe so
rasch und weit wie möglich aus der NÀhe des Ursprungs dieser Liebe zu kommen.
Er reiste blindlings darauflos, bis eine KĂŒste dem Schienenweg ein Ende machte, lieĂ
sich noch von einem Boot auf die nĂ€chste Insel ĂŒbersetzen, die er sah, und hier, an
einem unbekannten Zufallsort blieb er, notdĂŒrftig behaust und verpflegt, und schrieb
gleich in der ersten Nacht den ersten einer Reihe langer Briefe an die Geliebte, die er
niemals absandte. (MoE 124)
Bezeichnend an dieser uneigennĂŒtzigen Handlungsweise340, deren âTendenz
auf Entwirklichung der Frau, auf Abwendung vom âLebenâ, um dadurch ein
gesteigertes WeltverhĂ€ltnis zu gewinnenâ341, der Ă€lteren ideologiekritisch-
psychoanalytisch ausgerichteten Musil-Forschung einigen Anlass zur Figuren-
schelte gegeben hat342, ist das Fehlen jeglicher ernsthaften BemĂŒhung um eine
Realisierung des amourösen Begehrens innerhalb der bestehenden Welt. FĂŒr
339 Nach Hartwig : Poetik der Ăbereinstimmung, S. 107, âunterscheidet sich Musils Konstruktion
schon deshalb erheblichâ von jener Flauberts, âweil der Protagonist Ulrich ĂŒber seinen sexuel-
len Erfolg eben nicht (wie Rodolphe) froh istâ.
340 Vgl. dazu auch eine (bereits weiter oben zitierte) bezeichnende Passage aus dem Nachlass, in
der es heiĂt : âEs ist aber eine EigentĂŒmlichkeit dieser Erlebnisse, dass sie fast immer nur in
einem Zustand des Nichtbesitzes erlebt werden.â (KA, Blaue Mappe 46)
341 So Pekar : Die Sprache der Liebe, S. 269.
342 Vgl. etwa Laermann : Eigenschaftslosigkeit, S. 131â163, hier S. 132 : âIm NarziĂmus dieses Ver-
liebtseins, das nicht die Vereinigung, sondern eine Trennung von der Geliebten will, wird die
zielgehemmte sexuelle Regung, das Unvermögen, wirklich zu lieben, zur eigentlichen Liebe
stilisiert. [âŠ] DaĂ das Liebesobjekt nicht Ziel der Liebe, sondern nur deren beliebiges und
beinahe gleichgĂŒltiges Auslösungsmoment ist, zeigt die Melancholie der Sehnsucht, die gleich-
wohl auf es gerichtet zu bleiben scheint, wenn sie auch realiter auf die subjektive GefĂŒhlsimma-
nenz selbst sich richtet.â
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208