Seite - 904 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Bild der Seite - 904 -
Text der Seite - 904 -
Teil II: Romantext als
KrÀftefeld904
der in Ulrich (vgl. oben) noch in Hans ein Objekt gefunden, das sie selber rest-
los zu ĂŒberzeugen vermag. Nicht zu Unrecht ruft ihr deshalb der selbst nicht
gerade zielgerichtet handelnde Mann ohne Eigenschaften entgegen : âIrgend
ein Ziel muà man haben ; Sie können nicht auf die Dauer von dem Gegensatz
zu Ihren Eltern leben.â (MoE 493) TatsĂ€chlich kĂ€mpft Gerda hartnĂ€ckig um ein
positiv aufgeladenes Bezugsbild ihrer Liebessehnsucht, zu dessen Gewinnung
sie sich selber ĂŒberlistet, indem sie autosuggestiv ein romantisierendes Bild von
Hans Sepp zeichnet ; dessen sprachliche Wiedergabe wird von der dazwischen-
geblendeten ErzÀhlstimme jedoch im selben Atemzug ironisch konterkariert :
[G]enau so stellte sich Gerda die ersten römischen Christen vor, die sich, den Ver-
folgungen trotzend, unter der Erde in den Katakomben zusammenfanden ; den
Taschenspiegel wahrscheinlich ausgenommen. Genau so, hieĂ ja auch nicht Ăber-
einstimmung in allen Einzelheiten, wohl aber in einem allgemeinen Grund- und
SchreckensgefĂŒhl, das sie mit den Vorstellungen von Christentum verband ; die ge-
badeten und gesalbten Heiden hatten ihr immer besser gefallen, aber sich zu den
Christen zu bekennen, bedeutete ein Opfer, das man seinem Charakter schuldig war.
Die höheren Erfordernisse hatten damit fĂŒr Gerda einen muffigen leichten Abscheu-
geruch gewonnen, und dieser war sehr geeignet, sich mit der mystischen Gesinnung
zu verbinden, deren Gefilde Hans vor ihr eröffnete. (MoE 551 f.)
Zwar haftet der âmystischen Gesinnungâ der Muff und Moder ihrer unedlen
sozialen Herkunft an, aber sie besitzt im Kontext der durch ethnische, soziale
und politische GrĂ€ben zerklĂŒfteten kakanischen Gesellschaft durchaus ge-
wisse diskursive AttraktivitĂ€t, verheiĂt sie doch eine zukĂŒnftige Ăberwindung
menschlicher Entzweiung. Da man freilich ânicht jeden Menschen liebenâ
kann (MoE 483), soll diese menschliche Vereinigung durch die soziale Exklu-
sion missliebiger Gesellschaftsgruppen ins Werk gesetzt werden, von der man
sich die Beseitigung allen Ăbels erwartet â Liebe erscheint dergestalt wiede-
rum als die gleichsam notwendige Kehrseite der Gewalt.353 Dass diese typisch
kleinbĂŒrgerliche Ideologie bei der Tochter des (jĂŒdischen) Bankprokuristen
auf gewisse Vorbehalte stöĂt, liegt auf der Hand, arbeitet in ihr doch auch die
von den eigenen Eltern ererbte habituelle Disposition.
Da Hans aus den eingangs genannten GrĂŒnden ânicht die geringste Aus-
sicht auf Versorgungâ bietet, erklĂ€rt etwa Gerdas Mutter Klementine eine Ver-
lobung mit ihm zunĂ€chst fĂŒr ausgeschlossen (MoE 309), was die Hoffnung auf
eine glĂŒckliche Vereinigung vorerst empfindlich schmĂ€lert. âNamentlich Gerda
353 Vgl. die diesbezĂŒglichen Bemerkungen im Abschnitt zu Feuermaul aus dem Kap. II.2.1.
zurĂŒck zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208