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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld926
sich genommen kaum ein Gegenstand einer hinlÀnglichen soziologischen
Deutung des Entstehens von Liebe, wenn dabei deren soziale Möglichkeits-
bedingungen ausgeblendet bleiben. Wo der âLiebescodeâ herrscht, ohne dass
die traditionelle Geschlechterordnung erschĂŒttert wird403, fĂŒhrt dies zur einer
den Code âanerkennenden Verkennungâ sozialer Hierarchien bzw. zu âLiebes-
allodoxienâ, wie man solche Formen des EinverstĂ€ndnisses mit der Vorstellung
bedingungsloser ReziprozitÀt nach Bourdieu nennen könnte. Sie vermögen
meist nicht dauerhaft verwirklicht zu werden, weil just ihre zwar geleugnete,
aber nach wie vor wirksame soziale PrÀgung sie daran hindert. Zwischenge-
schlechtliche Liebe ist unter den Bedingungen der âmĂ€nnlichen Herrschaftâ
schlechterdings nicht in Absehung von der Geschlechterdifferenz und der
Möglichkeit einer Umkehr bestehender MachtverhÀltnisse zu verstehen.404
Wird dies dennoch angestrebt, droht der Versuch entweder in plane Ideologie
umzukippen â wie im Beispiel Gerdas, die einer besonderen âLiebesallodoxieâ
anhĂ€ngt â, oder er gerĂ€t zum Instrument einer bloĂen Aufstiegsstrategie â
wie bei Diotima, die ihre eigenen Ideale recht schnell ĂŒber Bord wirft, wenn
ihr das dienlich erscheint. Eine Störung der âmĂ€nnlichen Herrschaftâ durch
die âMagieâ der Liebe bzw. durch mystische Verschmelzungserlebnisse kann
mit Musil, der die gesellschaftskonstitutive Opposition zwischen âprivatâ und
âöffentlichâ anhand seiner Liebesmystik in Frage stellt, als Ăberwindung der
âmĂ€nnlichâ bestimmten Zuordnung von âNaturâ bzw. âUnnaturâ der Frau ge-
deutet werden. Ulrichs und Agathes âEigenschaftslosigkeitâ verheiĂt demnach
eine Aufhebung festgefĂŒgter Geschlechterkonzeptionen und somit auch der
Grenze zwischen âNaturâ und âUnnaturâ der Leidenschaften. Arnheim hin-
gegen muss eine solche Haltung kategorisch ablehnen, weil sonst die auch
genderrelevante Differenz zwischen Ăkonomie und Liebe, Vernunft und Ver-
schwendung obsolet werden wĂŒrde.
Die skizzierte Dichotomie zwischen Arnheims âreinerâ Ăkonomie der
Ressourcensicherung auch in emotionalen Belangen und Ulrichs âantiöko-
nomischerâ Ăkonomie der Verausgabung â die noch weiter auszufĂŒhren und
zu differenzieren sein wird405 â verweist auf die romanstrukturelle Funktion
der seraphischen Liebe zwischen Diotima und Arnheim insgesamt, die Mu-
sil bereits in seinem Arbeitsheft 21 skizziert hat : Sie stellt âals prĂ€tentiöse
403 Vgl. dagegen die optimistische Pauschaldiagnose von Luhmann : Liebe als Passion, S. 202 : âDie
Unterschiede der Geschlechter, die in allen Liebes-Codes bisher hervorgehoben wurden und
um die herum Asymmetrien konstruiert und gesteigert wurden, schleifen sich ab.â
404 Vgl. dazu Becker : Liebe, S. 628 u. passim.
405 Vgl. den Abschnitt zu Ulrich und Arnheim im Kap. II.3.2.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208