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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 927
Unentschlossenheitâ eine negative Kontrastfolie dar und bereitet als solche
die Darstellung der alle Konventionen brechenden Geschwisterliebe zwi-
schen Ulrich und Agathe vor. Im Unterschied zum kompromisslosen âMög-
lichkeitsmenschenâ Ulrich empfindet der konziliante âWirklichkeitsmenschâ
Arnheim als Liebender ein ungekanntes âGefĂŒhl der Unsicherheitâ, wĂ€hnt
sich angesichts seiner inkommensurablen Leidenschaft sogar zunehmend in
einem âSumpfâ und bedarf â[d]esto nötigerâ einer âfeste[n] Haltungâ, wes-
halb er ein â[b]ĂŒrgerliches Geschehenâ inklusive bald wieder fallengelassener
âHeiratsideeâ in Gang setzt, vor allem aber weiterhin âGeschĂ€fte hinter dem
RĂŒcken Diotimasâ betreibt (Tb 1, 588), also der âökonomischenâ Ăkonomie
den Vorzug vor der Liebesökonomie des symbolischen Tausches gibt. Auch
in seinem GesprÀch mit Fontana hat Musil auf die distinktive Funktion der
âParalleleâ zwischen den sich liebenden Geschwistern und âdem Paar : Di-
otima und Wirtschaftsheldâ hingewiesen, die veranschauliche, inwiefern die
Welt auf das von Arnheim verkörperte âBöseâ angewiesen sei, um sich zu
bewegen : âWĂŒrde er keine GeschĂ€fte machen, könnte er keine Seele haben ;
nicht wegen des Geldes, das man braucht, um sich eine leisten zu können,
sondern weil das Heilige ohne das Unheilige ein regloser Brei ist. Auch diese
Zweiheit ist bedingt und notwendig.â (GW 7, 940) Diese relationale Struktur
gilt freilich nicht allein innerhalb der scheiternden Liebe zwischen Diotima
und Arnheim, sondern insbesondere auch hinsichtlich der so anders gearteten
Beziehung zwischen Agathe und ihrem Bruder Ulrich, der weder âhinter dem
RĂŒckenâ der Geliebten noch sonst wo GeschĂ€fte betreibt. Entsprechendes hat
schon Pekar konstatiert, wenn er â in einer gewissen Spannung zu seinem
ausschlieĂlich auf DiskursphĂ€nomene ausgerichteten Ansatz â als Fazit seiner
Ăberlegungen zu Diotima und Arnheim festhĂ€lt, âdaĂ die Liebesbeziehungâ
der beiden âim Zentrum der Gesellschaft steht. Beide sind ĂŒberangepaĂte
Gesellschaftsmitglieder, die den Sprung aus der Ideologie (hier der Seelen-
ideologie) nicht schaffenâ.406 Mit anderen Worten : âDie seelenideologische
Fassung dieser Liebe funktioniert nicht. Die NichterfĂŒllung der AnsprĂŒche des
Körpers, die von dieser Liebesfassung ausgegrenzt sind, fĂŒhrt zum Scheitern.
Da die Ideologie nie ĂŒberwunden wird, vernichtet sie am Ende die Liebe. Ul-
rich und Agathe können aus dieser âParodieâ einer Liebe nur lernen (vgl. MoE
1833), wie man es nicht machen soll.â407
406 Pekar : Die Sprache der Liebe, S. 221.
407 Ebd., S. 222. Unter gĂ€nzlicher Absehung von Arnheim vermutet auch Leue : Diotima : âSeelen-
riesinâ und âRiesenhuhnâ, S. 342 f.: âUlrich erprobt sich an Diotima, sozusagen als Vorbereitung
auf Agathe. [âŠ] Er erkennt, daĂ dieses Prinzip nicht zum âanderen Zustandâ fĂŒhrt, daĂ der
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208