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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld944
tus Carmichael gezeichnet, wobei Woolf ganz lapidar der etablierten literari-
schen Topik folgt : âThey had not needed to speak. They had been thinking
the same things and he had answered her without her asking him anything.
He stood there as if he were spreading his hands over all the weakness and
suffering of mankind ; she thought he was surveying, tolerantly and compassi-
onately, their final destiny.â470 Die sprachlich gestaltete Erfahrung unvermit-
telter vorsprachlicher Ăbereinstimmung zwischen den Geschlechtern ist im
literarischen Liebesdiskurs freilich lÀngst topisch und findet sich nicht nur im
âneomystischenâ oder im Androgyniediskurs des frĂŒhen 20. Jahrhunderts.
Musils romaneske Darstellungsintention schlieĂt unmittelbar an die skiz-
zierten Tendenzen an bzw. ist Teil von ihnen. In seiner groĂen Studie ĂŒber
die Geschichte des Androgyniemotivs in der europÀischen Literatur hat
Aurnhammer den Mann ohne Eigenschaften sogar als âden anspruchsvollsten
Versuch der Moderneâ ĂŒberhaupt bezeichnet, âdas Androgynie-Ideal im Ge-
schwistermythos zu erneuernâ.471 Wie immer man zu dieser superlativischen
Wertung stehen mag, bezeichnet sie jedenfalls eine zentrale Darstellungsinten-
tion. Musil selbst, der den Begriff âAndrogynieâ freilich niemals verwendet472
â âstatt dessen gebraucht er âHermaphroditismusâ, âDoppelgeschlechtlichkeitâ,
âDoppel-Ichâ u. Ă€.â â, dem aber âdie Tradition des Androgynie-Motivsâ au-
genscheinlich gut âvertrautâ ist473, erlĂ€utert im GesprĂ€ch mit Fontana einen
konzeptionellen Kern seines groĂen Romans :
Die Zwillingsschwester ist biologisch etwas sehr Seltenes, aber sie lebt in uns allen als
geistige Utopie, als manifestierte Idee unserer selbst. Was den meisten nur Sehnsucht
bleibt, wird meiner Figur ErfĂŒllung. Und bald leben die beiden ein Leben, das der
guten Gemeinschaft einer alten Ehe entspricht. Ich stelle die beiden mitten hinein in
den Komplex der âSchmerzen von heuteâ : Kein Genie, keine Religion, statt âin etwas
lebenâ â âfĂŒr etwas lebenâ â lauter ZustĂ€nde, in denen ich unsere IdealitĂ€t Ă€onisiere.
Aber Bruder und Zwillingsschwester : das Ich und das Nicht-Ich fĂŒhlen den inne-
ren Zwiespalt ihrer Gemeinsamkeit, sie zerfallen mit der Welt, fliehen. Aber dieser
Versuch, das Erlebnis zu halten, zu fixieren, schlÀgt fehl. Die Absolutheit ist nicht zu
bewahren. (GW 7, 940)
470 Woolf : To the Lighthouse, S. 305.
471 Aurnhammer : Androgynie, S. 285.
472 Diese Vermutung Aurnhammers (ebd., S. 288) und Neumanns (Androgynie und Inzest, S. 155)
lĂ€sst sich jetzt durch die digitale Klagenfurter Musil-Ausgabe (KA) bestĂ€tigen, die zu âAndrogy-
nieâ keine Treffer verzeichnet.
473 Aurnhammer : Androgynie, S. 288.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208