Seite - 946 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Bild der Seite - 946 -
Text der Seite - 946 -
Teil II: Romantext als
KrÀftefeld946
offen heterodoxe478 androgyne Utopie an, und noch im kanonischen Kapitel
II/2 mit der bezeichnenden Ăberschrift âVertrauenâ rĂ€tselt Ulrich ĂŒber seine
Schwester :
Sie hatte weder etwas Emanzipiertes, noch etwas Bohemehaftes an sich, obgleich sie
da in weiten Hosen saĂ, in denen sie den unbekannten Bruder empfangen hatte. Eher
etwas Hermaphroditisches, so kam ihm jetzt vor ; das leichte mÀnnliche Kleid lieà in
der Bewegung des GesprÀchs mit der Halbdurchsichtigkeit eines Wasserspiegels die
zÀrtliche Formung ahnen, die sich darunter befand, und zu den frei-unabhÀngigen
Beinen trug sie das schöne Haar frauenhaft aufgesteckt. Das Zentrum dieses zwie-
spÀltigen Eindrucks bildete aber noch immer das Gesicht, das den Reiz der Frau in
hohem MaĂe besaĂ, doch mit irgendeinem Abstrich und Vorbehalt, dessen Wesen er
nicht herausbekommen konnte. (MoE 686)
Sogleich genieĂt Ulrich â trotz einer gewissen, selber eingestandenen Ver-
störung angesichts der ungewohnten geschlechtlichen InkommensurabilitÀt
der schwesterlichen Erscheinung â mehr oder weniger reflexionslos ihr Bei-
sammensein : âUnd daĂ er so wenig von ihr wuĂte und so vertraut mit ihr saĂ,
und doch auch ganz anders als mit einer Frau, fĂŒr die er ein Mann wĂ€re, das
war etwas sehr Angenehmes, in der MĂŒdigkeit, der er nun nachzugeben be-
gann.â (MoE 686) Agathe wird allein schon dadurch vor den anderen (weib-
lichen) Romanfiguren ausgezeichnet, dass Ulrich in ihrer Gegenwart seiner
âMĂŒdigkeitâ nachgeben kann und sich nicht mehr als stets wachsamer Mann
beweisen muss, wÀhrend die vorher von der tristen Wirklichkeit existenziell
ermĂŒdete Agathe â wie oben bereits zitiert â schon bei ihrem ersten lĂ€ngeren
Zusammensein ihre MĂŒdigkeit zu ĂŒberwinden trachtet und hofft, âjetzt zum
letzten Mal schlĂ€frig [zu] seinâ (MoE 676). Die Leichtigkeit der geschwister-
lichen Kommunikation selbst kontrĂ€rer BedĂŒrfnisse fĂ€llt umso mehr ins Auge,
wenn man die Szene mit der enormen emotionalen Anstrengung vergleicht,
die Clarisse in den Kapitelgruppen-EntwĂŒrfen aufbringt, um sich âin einen
Hermaphroditen zu verwandelnâ (MoE 1538). Ihr heiseres FlĂŒstern â âIch
bin kein Weib [âŠ], ich bin der Hermaphrodit !â â löst dort beim Adressaten
der forcierten BemĂŒhung freilich nur âGeringschĂ€tzungâ aus (es handelt sich
um den gerade ĂŒber Liebe dozierenden homophilen Philosophen âLindnerâ,
der in der Endfassung des Romans Meingast heiĂen wird) ; so belehrt sie
478 Zum Hintergrund vgl. Foucault : Der Wille zum Wissen, S. 52 : âLange Zeit waren die Herma-
phroditen Verbrecher oder SpröĂlinge des Verbrechens, weil ihre anatomische Verfassung, ja
allein ihr Sein schon das Gesetz verwirrte, das die Geschlechter schied und verband.â
zurĂŒck zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208