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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld1024
Nebel von Worten waren, dessen einziger, ĂŒbrigens nicht unbetrĂ€chtlicher Wirklich-
keitsanspruch darin bestand, daĂ er unwillkĂŒrlich an immer den gleichen Stellen auf-
stieg. (MoE 391)
In dieser sarkastischen Diagnose des Arnheimâschen Schreibvorgangs meint
man den Rathenau-Kritiker von 1914 zu vernehmen.686 Dass es Musil indes
nicht um die billige Satire auf eine damals schon historische â und noch dazu
politisch und rassistisch diskreditierte â öffentliche Person zu tun ist, sondern
um die einlÀssliche kritische Analyse eines immer dominanter werdenden
neuartigen Modells von Autorschaft im sich rasant kommerzialisierenden li-
terarischen Feld, zeigt sich etwa darin, dass die Romanfigur Arnheim im signi-
fikaten Unterschied zum SpĂ€tzĂŒnder Rathenau687 thematisch und quantitativ
recht schnell eine enorme schriftstellerische ProduktivitĂ€t entwickelt : âAls er
sich auf der Höhe der Mannesjahre befand, hatte er sich zu allem und je-
686 Vgl. Anmerkung zu einer Metapsychik (1914), worin der Rezensent Musil ausfĂŒhrt : âBei der
AusfĂŒhrung fehlte [âŠ] das Erlebnis und an Stelle der GefĂŒhlsmystik trat eine rationale. Diese
Verschiebung ist absolut typisch fĂŒr alle systematischen Versuche auf diesem Gebiet. Von der
seelischen BerĂŒhrung bleibt dann nur das anstrengende Festhalten einiger in intimsten Au-
genblicken gebildeter Begriffe, zwischen die alles ĂŒbrige mit einem Geist interpoliert wird,
der naturgemÀà auĂer trance ist und sich von dem wissenschaftlichen Verstand eigentlich nur
dadurch unterscheidet, daĂ er auf dessen Tugenden der Methodik und Genauigkeit verzichtet.
Die Evidenz der Intuition entgleitet zur Unverbindlichkeit des Aperçus ; was eben noch als
Aphorismus, als esprithafter Einfall daherkam, gilt wenige Zeilen spÀter als gefestetes Material
fĂŒr neuen Weiterbau und es entsteht eine auĂerordentlich merkwĂŒrdige Pseudosystematik,
eine Art erbittertes Ordnungsspiel, bei dem es aus einer Anzahl bestimmter Steine vorausbe-
stimmte Figuren zu formen gilt.â (GW 8, 1019)
687 Zum historischen Hintergrund vgl. Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik,
S. 279, Anm. 222 : âDie Entwicklung von Arnheims schriftstellerischer TĂ€tigkeit ist [âŠ] so
allgemein beschrieben, dass sie auch auf Rathenau zutrifft. Allerdings wird dessen Produktivi-
tĂ€t stark ĂŒberzogen, denn bis 1913 hatte er erst drei BĂŒcher veröffentlicht. Ăberhaupt verlegt
Musil den Ruhm Arnheims als Schriftsteller gegenĂŒber Rathenau zeitlich vor.â Howald zufolge
war noch dessen zweites groĂes Buch Zur Mechanik des Geistes von 1913, das Musil kritisch
rezensiert hat, âeher ein Misserfolgâ ; erst Von kommenden Dingen (1917) und Die neue Wirtschaft
(1918) machten Rathenau dann zu einem Bestsellerautor. Howald stĂŒtzt sich auf Kessler : Ra-
thenau, S. 231, der berichtet : âDer Erfolg der Schriften âVon kommenden Dingenâ und âDie
neue Wirtschaftâ war sensationell. Nach dem halben MiĂerfolg der âMechanik des Geistesâ
stellten plötzlich die Auflagenziffern dieser beiden BĂŒcher die der erfolgreichsten Romane in
den Schatten. Der ersten Auflage der âKommenden Dingeâ von 5000 Exemplaren im Februar
1917 folgte bereits im MĂ€rz eine weitere von 8000 und im April eine von 11 000 Exemplaren.
In etwas mehr als einem Jahre, bis Mitte 1918, wurden von den âKommenden Dingenâ 65 000
Exemplare, von der âNeuen Wirtschaftâ gleich im ersten Monat, Januar 1918, 30 000 Exemplare
verkauft. Walther Rathenau wurde der am meisten gelesene und am leidenschaftlichsten be-
sprochene deutsche Schriftsteller.â
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208