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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld1042
âGedanken um die Sache der Literaturâ gekreist und haben ihn vor ein RĂ€tsel
gestellt :
SchlieĂlich ging ihn die Literatur nichts mehr an, seit er mit zwanzig Jahren sein
letztes Gedicht geschrieben hatte ; immerhin war zuvor eine Zeitlang heimliches
Schreiben eine ziemlich regelmĂ€Ăige Gewohnheit von ihm gewesen, und er hatte sie
nicht etwa deshalb aufgegeben, weil er Àlter geworden war oder eingesehen hatte, zu
wenig Begabung zu haben, sondern aus GrĂŒnden, fĂŒr die er unter den gegenwĂ€rtigen
EindrĂŒcken am ehesten irgendein Wort hĂ€tte gebrauchen mögen, das nach vielen
Anstrengungen ein MĂŒnden ins Leere ausdrĂŒckt. (MoE 867)
In diesen Worten klingt Ulrichs ostentative Schreibskepsis schon merklich
verhaltener und ambivalenter. Angesichts der von ihm dennoch empfundenen
âwachsenden Abneigungâ gegen das Schreiben beantwortet er Tuzzis Frage
âHaben Sie selbst nie geschrieben ?â zwar nicht ganz richtig, aber doch von
der Tendenz her zutreffend : âZu meiner Beunruhigung nie. Denn ich bin kei-
neswegs so glĂŒcklich, daĂ ich es nicht tun mĂŒĂte. Ich habe mir vorgenommen,
wenn ich nicht bald das BedĂŒrfnis danach empfinden sollte, mich wegen ganz
und gar abnormer Veranlagung zu töten !â (MoE 418 ; vgl. MoE 634, 646 u.
bes. 662) In diesen mit einem Schockeffekt spielenden Worten, deren unvor-
bereitete Drastik der ErzĂ€hler mit der harmlosen Bezeichnung âScherzâ nur
notdĂŒrftig zu ĂŒberspielen vermag, kommt neben einem gewissen Sarkasmus
auch eine merkwĂŒrdige Betroffenheit zum Vorschein, die auf eine besondere
affektive Beteiligung schlieĂen lĂ€sst. Ebenso bezeichnend wie Ulrichs schreib-
kritische Haltung719 ist andererseits die wahrhaft existenzielle Bedeutung, die
719 Ăber sich selbst stellt Musil ĂŒbrigens entsprechend fest : âIch bin nicht redselig (und auch nicht
unmittelbar schreibselig) : welche Paradoxie fĂŒr einen Dichter !â (Tb 1, 942) Dazu heiĂt es in
der Rede Ăber die Dummheit (1937) vielsagend : âSogar die GenialitĂ€t und die Dummheit hĂ€n-
gen unlöslich zusammen, und daĂ es, bei Androhung der Strafe, fĂŒr dumm zu gelten, verboten
ist, viel zu reden und viel von sich zu reden, wird von der Menschheit auf eigentĂŒmliche Weise
umgangen : durch den Dichter. Er darf im Namen der Menschlichkeit erzÀhlen, daà es ihm ge-
schmeckt hat, oder daĂ die Sonne am Himmel steht, darf sich selbst offenbaren, Geheimnisse
ausplaudern, GestĂ€ndnisse machen, rĂŒcksichtslos persönliche Rechenschaft ablegen (wenig-
stens halten viele Dichter darauf !) ; und alles das sieht ganz so aus, als ob sich die Menschheit
da in einer Ausnahme etwas gestattete, was sie sich sonst verböte. Sie spricht auf diese Weise
unablÀssig von sich selbst und hat mit Hilfe des Dichters die gleichen Geschichten und Erleb-
nisse schon millionenmal erzÀhlt, bloà die UmstÀnde abwandelnd, ohne daà irgendein Fort-
schritt und Sinnesgewinn fĂŒr sie hervorgekommen wĂ€re : sollte sie da, im Gebrauch, den sie
von ihrer Dichtung macht, und in deren Anpassung an diesen Gebrauch, nicht am Ende auch
der Dummheit verdĂ€chtig sein ?â (GW 8, 1278)
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208