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Teil III: Erzeugungsformel des Werks und Selbstobjektivierung des
Autors1102
welche sozialen VerhĂ€ltnisse eine solche anthropologische âOntologisierungâ
vorantreiben bzw. in welchen spezifischen politischen Konstellationen diese
als strategischer Einsatz verwendet wird. Akzeptiert man etwa die seit einigen
Jahren beliebte Ausdehnung des Politikbegriffs auf sÀmtliche Bereiche der aus-
differenzierten modernen Gesellschaft â was Musil nicht tut ! â, dann lĂ€sst sich
seine (oben zitierte10) Behauptung einer eigentĂŒmlichen Erlebnis- und Wahr-
nehmungslosigkeit der (mÀnnlichen) Kriegsgeneration von 1914/18 (vgl. GW
8, 1075) mit Bourdieu als Element seiner Literaturpolitik deuten : Zwar erin-
nert das Vokabular seiner (ebenfalls bereits zitierten11) ĂuĂerungen, wonach
âdie Erfahrung des Kriegs [âŠ] es in einem ungeheuren Massenexperiment
allen bestĂ€tigtâ habe, âdaĂ der Mensch sich leicht zu den Ă€uĂersten Extremen
und wieder zurĂŒck bewegen kann, ohne sich im Wesen zu Ă€ndernâ (GW 8,
1080), ja dass er ânur in Formenâ existiere, âdie ihm von auĂen geliefert wer-
denâ (GW 8, 1370), vorderhand an Ernst JĂŒngers politische Anthropologie :
Auch JĂŒnger zufolge stellt der Mensch nur âdas stĂ€ndig wechselnde GefĂ€Ă
all dessenâ dar, âwas vor ihm getan, gedacht und empfunden wurdeâ â einer
ĂŒberindividuellen Kraft also, die âmit unwiderstehlicher Gewalt den fernen,
in Nebel gehĂŒllten Zielenâ zutreibe.12 Bei genauerem Hinsehen erweist sich
Musils Stellungnahme indes als Einsatz gerade gegen die unter anderem von
JĂŒnger vertretene essenzialistische und teleologische Deutung des Kampfes
als Bestimmung des Menschen13 und des abgehĂ€rteten Ăberlebens im Krieg
als anthropologischer Etappensieg.14 Auf einer allgemeineren Ebene bezieht
sich die schriftstellerische Distinktion Musils sogar auf sÀmtliche zeitgenös-
sische Autoren, zu deren Positionen in der Frage einer politischen Anthro-
pologie sich von ihm jeweils distinktive Relationen knĂŒpfen lassen, etwa zu
Franz Werfels, Ludwig Rubiners, Leonhard Franks und Walter Hasenclevers
wird dann zum Programm der vornehmlich pessimistischen, aufklÀrungsfeindlichen und inso-
fern konservativen Verfechter der reinen Machtpolitik.â
10 Vgl. Kap. I.2.1.
11 Vgl. ebd.
12 JĂŒnger : Der Kampf als inneres Erlebnis, S. 14. Vgl. dazu Streim : Das Ende des Anthropozentris-
mus, S. 120.
13 Vgl. JĂŒnger : Der Kampf als inneres Erlebnis, S. 11 f.: âDer Krieg ist es, der die Menschen und
ihre Zeiten zu dem machte, was sie sind. [âŠ] [E]r hat uns gehĂ€mmert, gemeiĂelt und gehĂ€rtet
zu dem, was wir sind. Und immer, solange des Lebens schwingendes Rad noch in uns kreist,
wird dieser Krieg die Achse sein, um die es schwirrt.â Mehr dazu bei Elias : Studien ĂŒber die
Deutschen, S. 275, unter Verweis auf JĂŒnger : In Stahlgewittern [18. Auflage 1937], S. 288.
14 Zur Differenz zwischen JĂŒnger und Musil vgl. die Bemerkungen von Maier-Solgk : Sinn fĂŒr Ge-
schichte, S. 255 f.; Martens : Argumente fĂŒr die âGestaltâ des âneuen Soldatenâ ?, passim ; mehr
dazu unten.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208