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Der Mann ohne Eigenschaften im zeitgenössischen literarischen Feld 1149
aber dient es ihm dazu, die AnstöĂigkeit dieser schonungslosen Analyse â
welche nicht nur die der sozialen Welt zugrunde liegenden Strukturen offen-
legt, sondern ebenso die sozialen Grundlagen des eigenen Habitus â selbst
wieder als fiktionales Spiel zu verschleiern.
Eine letzte kompositorische Konsequenz seiner darstellerischen BemĂŒ-
hung um den âdenkenden Menschenâ ist die herausgehobene Rolle und die
soziale wie intellektuelle Beschaffenheit der mÀnnlichen Hauptfigur, durch
die sich Musil ein weiteres Mal von der vorherrschenden deutschsprachigen
Romanliteratur seiner Zeit distinguiert. Wie Erhard SchĂŒtz erwĂ€hnt hat, ist
der sportliche, bei Frauen erfolgreiche Mathematiker aus gutem Hause âin
der eher kleinbĂŒrgerlich bis plebejischen Personnage des deutschen Romans
eine Ausnahmeâ167. Ein proletarischer Held, wie ihn etwa der âehemalige[ ]
Zement- und Transportarbeiter Franz Bieberkopfâ aus Döblins Berlin Alexan-
derplatz darstellt168, oder auch ein intellektuell ausdrĂŒcklich etwas schlichter
BĂŒrgersohn wie Hans Castorp aus dem Zauberberg169 hĂ€tte das ihm hier vom
Autor auferlegte Pensum einer reflexiven Durchdringung der Welt nicht be-
wĂ€ltigen können.170 Auf ĂŒberraschende und vom Autor wohl kaum kalkulierte
Weise scheint hier die altehrwĂŒrdige Tradition der genera dicendi bzw. der rota
Vergilii zu neuem Leben erweckt, indem implizit eine Korrelation zwischen
Anlage bzw. Gegenstand der literarischen Darstellung und sozialer Lage des
Protagonisten hergestellt wird. Der mit dieser merkwĂŒrdigen Reaktivierung
von Aspekten der StÀndeklausel einhergehenden soziologischen Implikatio-
nen ist sich Musil durchaus bewusst, weià er doch auch um die sozialen Mög-
lichkeitsbedingungen der eigenen intellektuellen Existenz. Die nicht zuletzt
autoanalytische Funktion von Ulrichs sozialer Konstitution, seiner geistigen
liegt mit der bĂŒrgerlichen Auffassung. Er hat selbst oft das Kranke, Abwegige in den GrĂŒn-
den des KĂŒnstlers betont, und bemĂŒht sich mit bewundernswerter Anstrengung, es schlieĂlich
doch zur bĂŒrgerlichen Ordnung zu rufen und einzuordnen. Man kann ihn als den sichtbarsten
Vertreter des erwachten Gewissens dafĂŒr bezeichnen, daĂ Regel und Ausnahme nicht mehr
lange so asyntaktisch nebeneinander bestehen bleiben dĂŒrfen, wie sie es seit hundert Jahren
tun ; wenn man auch, wie ich, seinen Lösungsversuchen nicht beipflichten kann. Sie ebnen die
Ausnahme zu sehr in die bĂŒrgerliche Regel ein.â (M I/6/120)
167 SchĂŒtz : âDu brauchst bloĂ in die Zeitung hineinzusehenâ, S. 290.
168 Vgl. Döblin : Berlin Alexanderplatz, S. 11.
169 Vgl. Mann : Der Zauberberg, S. 1085 : âLebewohl, Hans Castorp, des Lebens treuherziges Sor-
genkind ! Deine Geschichte ist aus. [âŠ] Wir haben sie erzĂ€hlt um ihretwillen, nicht deinethal-
ben, denn du warst simpel.â
170 Becker : Von der âTrunksucht am TatsĂ€chlichenâ, S. 156 f., sieht in Ulrich hingegen nur einen
âtraditionelle[n] Romanheld[en]â, der sich nicht âin die Niederungen des stĂ€dtischen Alltags,
der alltĂ€glichen AblĂ€ufeâ begeben wolle.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208