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1154 Teil III: Erzeugungsformel des Werks und Selbstobjektivierung des Autors
ersten literarischen Schreibversuchen aus âdem Nachtbuche des monsieur le
vivisecteurâ (Tb 1, 1) als einen âGelehrte[n]â imaginiert, âder seinen eigenen
Organismus unter das Mikroskop setzt und sich freut, sobald er etwas neues
findetâ (Tb 1, 3). Kaum von ungefĂ€hr entsprechen dann auch Herkunft, Alter,
schulischer und beruflicher Werdegang des spÀteren Romanhelden Ulrich bis
in Einzelheiten denen seines Autors11, wobei freilich manche davon im Rah-
men der Fiktionalisierung auf bezeichnende Weise modifiziert erscheinen.12
Musils Vater Alfred war Hochschulprofessor, allerdings nicht â wie der Va-
ter Ulrichs â fĂŒr Rechtswissenschaften an der UniversitĂ€t, sondern fĂŒr Ma-
schinenkunde und Maschinenbau an der Technischen Hochschule BrĂŒnn ; er
vertrat damit ein zwar in rasanter Aufwertung befindliches13, in der akade-
mischen Disziplinenhierarchie damals aber noch deutlich niedriger als Jura
angesiedeltes Fach14 an einer Bildungseinrichtung mit geringerem Prestige,
die zudem im Schatten der etablierten Technischen Hochschulen in Wien,
Prag und Graz stand.15 Alfred Musils âschöne[r] Aufstiegâ nahm mit seiner
11 Genaueres zur Familie findet sich in Corino : Musil [2003], S. 59â91. Zur Problematik insgesamt
vgl. Roth : Musil im Spiegel seines Werkes.
12 Vgl. dazu Blasberg : Krise und Utopie der Intellektuellen, S. 231 : âDie jeweiligen Protagonisten
[der unterschiedlichen Arbeitsphasen des Romans, N. C. W.] glÀtten Musils Ausbildungsweg
zur bedeutsamen Stationenfolgeâ.
13 Vgl. die soziologischen Ăberlegungen Musils im Arbeitsheft 33 : âEin nicht nebensĂ€chlicher
Zug : Mein Amtmann-UrgroĂvater. Das aufstrebende BĂŒrgertum ergriff gern juridische Berufe.
Es war praktisch, mochte aber auch eine geistige Genugtuung sein. (s. Goethes GroĂvater und ?
Vater) In meiner frĂŒhen Jugend dominierte noch die Vorstellung, daĂ die Verwaltung in die
HÀnde des Juristen gehöre. Dann kam die Emanzipation der Techniker (Hofratstitel, Ministe-
rialleitung). Es erschien mir ganz natĂŒrlich und war vielleicht ein Verfall. Die Abdankung des
Jus. Ich selbst habe das fĂŒr âmodernâ gehalten [âŠ]. Mein Muttervater ist [in der Nachlasstran-
skription der KA : âwarâ, N. C. W.] schon nicht Jurist, sondern Ingenieur geworden. Der Bruder
meiner GroĂmutter (v. Böhm) Arzt. Solche Berufswahl bedeutete anderes als in stĂ€dtischen
Patrizierfamilien. (Deren es in Ăsterreich wenig gab.)â (Tb 1, 954 f.; H 33/103) Hinsichtlich
der hier ansatzweise problematisierten âEmanzipation der Technikerâ ist es signifikant, dass im
Romantext ein Jurist und nicht ein Techniker als Ulrichs Vater figuriert, also eine Generation
gleichsam ĂŒbersprungen wird.
14 Aus Bourdieuâscher Perspektive lieĂe sich die Tatsache, dass die Profession des Technikers im
Feld der Macht seinerzeit noch nicht so angesehen war, dahingehend funktionalisieren, dass
Ulrich als Ingenieur dadurch zu einem kritischen Blick auf die bestehenden MachtverhÀltnisse
prÀdestiniert wird bzw. weniger dazu disponiert ist, seine eigenen sozialen Strategien zu ver-
schleiern. Eine solche Konstellation kommt der literarischen Sozioanalyse zugute.
15 Vgl. Hoffmann : âDer Dichter am Apparatâ, S. 26. Es entspricht allerdings mehr einer technik-
und medientheoretischen Ăberpointierung als Musils differenzierteren Aussagen, wenn Hoff-
mann meint, gegen Ende des 19. Jahrhunderts sei den Technikern âdas höchste Renommee
und die gröĂte Eignung zur Verwaltung der StaatsgeschĂ€fteâ zugebilligt worden, weshalb sie
den âPlatzâ der Juristen âeingenommenâ und diese verdrĂ€ngt hĂ€tten (S. 16). FĂŒr eine signifikante
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208