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1158 Teil III: Erzeugungsformel des Werks und Selbstobjektivierung des Autors
liche Ăberzeugung vorzutragen, denn ich habe keine[20], noch die Absicht, mich zu
einer Romanfigur zu machen, als welche ich ein Charakter sein mĂŒĂte[21] ; denn ich
will keiner sein. (H 25/2 [1] ; vgl. Tb 1, 643)
In einer gestrichenen Passage betont Musil, dass ihm âder Zusammenhang
[s]einer Person nie wichtig war, sondern doch nur der [s]einer Gedanken und
GefĂŒhle.â (Tb 1, 644) Aus diesem Fokus weniger auf die eigene Person als
solche, als vielmehr auf deren kognitive und emotionale AktivitÀt bezieht er
sein Ă€sthetisches Pensum fĂŒr den Roman, dessen erkenntnisleitende Versuchs-
anordnung er in Abgrenzung vom ârealenâ Leben folgendermaĂen skizziert :
So wie ein schlechter Mensch mit fremdem Geld kĂŒhner spekuliert als mit eigenem,
will ich meinen Gedanken auch ĂŒber die Grenze dessen nachhĂ€ngen, was ich unter
allen UmstÀnden verantworten könnte ; das nenne ich Essay, Versuch. Und da alles
Gute Regeln hat, aber das Böse noch kein System besitzt, als Ausnahme behandelt
wird und somit stets persönlich bleibt, kann ich, der ich weder ein Gelehrter, noch
ein Charakter bin, noch in diesem Fall Dichter sein will, meinen Gedanken nur einen
Ich-Zusammenhang geben ; so will es die Sache, nicht ich. Dieses Ich bin nicht ich,
wie man wohl sieht, aber es wird auch keine Figur sein, denn ich will fiktiv-biogra-
fisch nur soviel unterlegen als dienlich ist, um gewisse Gedanken auf kĂŒrzerem Weg
verstÀndlich zu machen. (H 25/2 [1] u. H 25/4a ; Tb 1, 643 f.)
Musil bestÀtigt hier die analytische Funktion der nach seinem eigenen Vor-
bild gestalteten Hauptfigur als Medium eines Experiments, das er im ârea-
len Lebenâ in dieser RadikalitĂ€t aus ethischen GrĂŒnden nicht âverantworten
könnteâ.22 Dass die literarische Gestaltung indes nicht nur eine anamnetische
Entschleierung der eigenen Existenzbedingungen, existenziellen BedĂŒrfnisse
und Fragestellungen vollzieht, sondern ihr zugleich eine Strategie der kĂŒnstle-
rischen Verschleierung lebensgeschichtlichen Materials zugrunde liegt23, geht
aus den bezeichnenden Modifikationen hervor, denen Musil seine eigene Bio-
grafie im Medium der Fiktion unterzieht : So befÀhigt die komfortable vÀterli-
che UnterstĂŒtzung den ansonsten ökonomisch uninteressierten Romanhelden
20 Vgl. dazu die Randbemerkung : âdie interessiert mich nicht einmal selbstâ.
21 Vgl. dazu folgende Formulierungsalternative : â[âŠ] mir gewiĂ sein mĂŒĂte, was ich nicht binâ.
22 Zu den Paradoxien der autobiografischen Implikationen, insbesondere aber auch zu der durch
das ââErâ des erzĂ€hlenden Berichtsâ gewonnenen âmerkwĂŒrdigen NeutralitĂ€t, deren vielleicht
unerfĂŒllbarem Anspruch die Romankunst immerfort zu genĂŒgen sucht und zu genĂŒgen zögertâ,
vgl. Blanchot : Musil, S. 191 u. 203.
23 Vgl. Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 63 u. 66â69.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208