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und Romanheld in der Moderne – Musils indirekte Selbstanalyse
ferngehalten. Es fehlen mir die Zehntausende, die bei anderen gerade noch
mitkönnen oder mitmüssen.“ (GW 7, 959, nach M II/1/141) Während Tho-
mas Mann und andere Autoren dieses Typs eben „für die Menschen“ schrei-
ben, „die da sind“, schreibe er selbst „für Menschen, die nicht da sind !“ (Tb
1, 880) In einer ursprünglich für den Mann ohne Eigenschaften vorgesehenen,
aber wegen ihrer „Unflätigkeit dann wieder gestrichen[en]“ Randbemerkung
(vgl. jedoch MoE 431) nennt Musil eine unabdingbare Voraussetzung für den
Anklang bei diesen entscheidenden „Mittlerschichten“, die ihm selber abgeht :
„Man wird erst groß, wenn man die Anziehung auf die Menschen hat, ihren
Namen mit einem zu verbinden, wie es merkwürdigerweise Aussichtspunkte,
Bänke und Abortwände haben“ (GW 7, 959, nach M II/1/141). Dass ihm eine
solche Anziehung nicht eignet, entspringt freilich weniger einem schriftstel-
lerischen Unvermögen als vielmehr einem künstlerischen Willen. In seinen
Notizen zu einem geplanten Nachwort bzw. Zwischenvorwort schreibt Musil
über ein (heute vergessenes) „Buch, das Welterfolg hatte“ : „Wenn ich mich so
ein bißchen daran gewöhnte, könnte ich wohl auch solche Stellen schreiben.
[…] Aber ich will eben nicht. Jeder Begabte kann diese Tradition fortsetzen.
Und so habe ich denn lieber das Ungenießbare versucht. Einer muß einmal
Knoten in diesen endlosen Faden machen.“ (MoE 1942, nach M II/1/61)
Die am argwöhnisch beobachteten Konkurrenten Thomas Mann wahrge-
nommene „unerläßlichste Voraussetzung, um ein Großschriftsteller zu wer-
den“ (MoE 430), nämlich die sogenannte ‚doppelte Optik‘54, die darin be-
steht, „daß man Bücher oder Theaterstücke schreibt, die sich für hoch und
niedrig eignen“ (MoE 430)55, ist für Musil in der ausdifferenzierten Moderne
kein gangbarer künstlerischer Weg. Er hätte damit automatisch jenen aller-
höchsten intellektuellen Anspruch verraten, den er erklärtermaßen und ohne
Rücksicht auf Verluste vertritt. Die Subfelder der eingeschränkten und der
symbolischen Massenproduktion sind ihm zufolge nicht zugleich bedien-
bar, wenn man Literatur als möglichst unabhängiges, kritisch-analytisches
Erkenntnisinstrument versteht. Musil leidet eingestandenermaßen an einer
„Überschätzung des Publikumswillens“ (GW 7, 964, nach M II/1/57), den
er systematisch überfordert56 : „Ich habe überhaupt immer eine viel zu große
Vorstellung von dem gehabt, was man anderen zumuten müsse. Oder davon,
54 Vgl. dazu die Bemerkungen im Abschnitt zu Ulrich und Arnheim aus Kap. II.3.2.
55 Hervorhebung von N. C. W.
56 Vgl. etwa Musils bemerkenswerte Bitte im Gespräch mit Oskar Maurus Fontana : „Ich wäre […]
dem Publikum sehr dankbar, wenn es weniger meine ästhetischen Qualitäten beachten würde
und mehr meinen Willen.“ (GW 7, 942)
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRÄFTEFELD
- 1. „Versuchsstation des Weltuntergangs“ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. „Zeitfiguren“ 1913/1930 „am gesellschaftlichen Schachbrett“ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) – Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als ‚Antiessayismus‘ : Der Funktionär Tuzzi (489) – Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und ‚Jude‘ 501
- Ein trojanisches Pferd des Militärs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte ‚Eigenschaftlichkeit‘ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist Schmeißer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem „Geiste des Expressionismus“ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte ‚Eigenschaftlichkeit‘, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. „Die falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaft“ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der Geschlechteridentitäten : Die „Träger des Zeit- wandels“ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen „Zwangsherrschaft“ zur wissenschaftlichen Eheführung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche Verhältnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der ‚schönen Seele‘ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als „Lustselbstmord“ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frühes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe à la hausse, platonische „Begegnung zweier Berggipfel“ : Diotima und Arnheim 908
- Die „letzte Liebesgeschichte“ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne Männerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, Preußen gegen Österreich 1005
- Der Intellektuelle und der Großschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte „Exponenten des Zeitgeistes“ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- Bildungsbürger contra Kleinbürger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- Bildungsbürger contra Proletarier : Ulrich und Schmeißer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- Sekundärliteratur zu Musil 1193
- Register 1208