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64 KAPITEL2. KINDHEIT
schaufelt werden mußte. Für einen kleinen Jungen war die Schlucht durch diese hohen
Schneemauern als einzigerAusgang ins Freie etwas tief Beeindruckendes.
Wir waren imHaus nicht die einzigenGäste. Unter diesen war eine Frau, von der ich
noch dasBild ihres erschütternden Jammers imKopf habe: sie hattewohl an jenemTag
eine schrecklicheNachricht vielleicht Tod IhresMannes oder Zerstörung ihres Hauses
erhalten. IhrUnglück hattemich offenbar sehr berührt.
Ansonsten waren das herrliche Skiferien in diesem vom Krieg nicht berührten Tal.
Ich konntemit meinen Holzbrettchen, sprich Skiern, wunderbar herumrutschen und tat
dies zusammenmit demBubendesHauses, demSeppl.An ihnhege ich freundschaftliche
Erinnerungen.ErwurdespäterSchreinermeisterundbautesichfürseineFamilieunterhalb
desElferblicks ein neuesHaus. Leiderwar er beimeinemBesuch 2014 bereits gestorben.
Ist es ein reiner Zufall, daß ich heute in relativer Nähe dieses Ferienortes, an dem ich
so schöneWochen inmeinerKindheit erlebendurfte, quasi einTalweiter,meinenAlters-
wohnsitz gefundenhabe?BeimKaufdesHauseshierhatte ich jedenfalls keinenbewußten
Gedanken an jene Zeit imKleinwalsertal. Aber die unbewußtenProzesse in unseremGe-
hirn haben ja einenmöglicherweise dominierendenAnteil an unserenEntscheidungen.
ReisenwiediejenigennachHirscheggwarenzugleichFluchtvorBombennächtenundfür
meineMutterAblenkungvonderAngstumdasLeben ihresMannes imKrieg.Dadurch ist
derSchreckendesKrieges fürdiebeidenKinder sicher sehr gemildertworden, durfteman
dadurch zwischenzeitlich doch immer wieder das ganz normale Leben erfahren. Meine
Mutter war damals eine Enddreißigerin, also eine reife Frau, deren Mann so gut wie
nie zu Hause sein konnte. Sie hat ihre Liebe in dieser Situation wohl ganz auf ihren
Sohn ventilieren müssen. Da ich in jenem Alter die Dimension des Krieges überhaupt
nicht ermessenkonnte, hatmir das Schicksal trotz derVerhältnisse eine relativ glückliche
Kindheit beschert, woranmeineMutter einen unermeßlich großenAnteil hat.
NebenHirschegg gab es in denKriegsjahrenweitereReiseziele.Mein väterlicherGroß-
vater hatte sich offenbar inZirndorf beiNürnberg 1941 längereZeit zurKur aufgehalten,
wowir ihn gelegentlich besucht hatten.Die letztenBilder von ihmgibt es aus demJahre
1941.35 Ihnmochte ich herzlich gerne und inmeiner Erinnerungwar er ein richtig lieber
Opa. Allerdings gab es wohl nicht allzu viele Begegnungen mit ihm. An einen Besuch
von ihm in unsererWohnung kann ichmich jedoch noch erinnern und zwar an die Sze-
ne, als er auf die Toilette ging und ich vor deren Türe gefühlt unendlich lange auf sein
Wiederauftauchenwartenmußte. Erwar amDickdarm erkrankt.Man hatte ihm seitlich
einenkünstlichenDarmausgang eingerichtet,wasdieStuhlentleerung sicher sehr langwie-
35FAWB2, S.13, FAHB5, S.8.
Reflexionen vor Reflexen
Memoiren eines Forschers
- Titel
- Reflexionen vor Reflexen
- Untertitel
- Memoiren eines Forschers
- Autor
- L. Wolfgang Bibel
- Verlag
- Cuviller Verlag Göttingen
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-SA 4.0
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 464
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 1
- Vorfahren 11
- Kindheit 51
- Zielsuche 153
- Forscherleben 281
- Resümee 413
- Stichwort- und Namensverzeichnis 427