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68 KAPITEL2. KINDHEIT
nordwestlich gelegenen Zimmern flachgelegt. Natürlichwaren, wie bei anderenAngriffen
vor- und nachher, zudemunzählige Fensterscheiben geborsten.
Weil anKochen in der so zerstörtenWohnungnicht zu denkenwar, schicktemichmei-
ne Mutter tags darauf alleine zum Gasthof Linhard (damals noch) in der Mögeldorfer
Hauptstraße gegenüber der Friedenslinde, wo Fliegergeschädigte kostenlos Essensportio-
nen bekommen konnten. Selten habe ichmich so unwohl gefühlt wie bei dieser fürmich
beschämenden Situation, die ich als peinlichste Bettelaktion empfand. Diese Erfahrung
ebensowie ähnlicheErfahrungen später beim Hamstern haben sicher dazubeigetragen,
daß ichmich im späteren Leben immer doppelt abzusichern versuchte, ummöglichst nie
mehr in solche Situationen geraten zu müssen. Genau dieser Angriff, von dem ich hier
erzählt habe, könnte derAnlaß für denEntschlußmeinerMutter gewesen sein, für einige
Zeit ganz nachGmündumzusiedeln, wasmutmaßlich gegenEnde 1944 erfolgte.
Ich hatte schon erwähnt, daßmein Vater nach der Verletzung im Polenfeldzug offen-
bar einige Jahre an einem Standort in der Heimat diente. Diese für das Familienleben
angenehmen Jahre gingen imMai 1943 zuEnde: erwurde nun in der südrussischen bzw.
ukrainischen Steppe an der Ostfront eingesetzt. Etwa dreiWochen nach seiner Abreise
schickteer seinerFraueinenelfseitigenBerichtüberdiemehrtätigeFahrtzuseinemneuen
EinsatzortNowaja Sofijewka: Am18.5.morgens 6h ging es vonEger ab, durch herrliche
deutsche Landschaft ... , so beginnt dieserBericht.Am21.7.43 sandte er ihr einen zwei-
ten Bericht über das dortige Dorf. Diese beiden Texte klingen wie die Erzählungen von
einer Urlaubsreise im Ausland. Sie reflektieren über die Landschaft und die ihn beein-
druckende Infrastruktur des Landes ohne geringsteAnflüge vonBesatzermentalität oder
kriegerisch-aggressiverRhetorik.
Leider gibt es von ihmkeineweiterenBerichte über denFortgang seiner dortigen Sta-
tionierung und denOperationen seines Verbandes.Mutmaßlich ging es bald nicht mehr
so friedlich zu wie am Beginn dieser seiner Tage an der Ostfront, wie das später im
Zusammenhangmit dem Spruchkammerverfahren zitierte Gutachten des Truppenarztes
nahelegt. ImVersuch, die heute im Internet auffindbaren Informationen zudenOperatio-
nendesdeutschenHeeres46mitErinnerungenanErzählungenunseresVaters inEinklang
zu bringen, ergibt sich folgendesBild.
InBezug auf denDienstgrad hatte esmeinVater alsOffizier bis zumHauptmann (ab
1944), davorOberstleutnantd.R., gebracht.47Offenbarwar seineEinheit, dasSicherungs-
46http://de.wikipedia.org/wiki/Dnepr-Karpaten-Operation, Zugriff 17.3.2015.
47Ab 1.6.1942 Hauptmann der Reserve, eine Beförderung, die mit Verfügung vom 17.9.1942 wieder
aufgehobenwurde, und ab 1.8.1944Hauptmann, lt. Karteikarte, aaO. Fußnote 13.
Das im Rahmen des Spruchkammerverfahrens später auf S. 80 besprochene Gutachten von Herrn Dr.
Reflexionen vor Reflexen
Memoiren eines Forschers
- Titel
- Reflexionen vor Reflexen
- Untertitel
- Memoiren eines Forschers
- Autor
- L. Wolfgang Bibel
- Verlag
- Cuviller Verlag Göttingen
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-SA 4.0
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 464
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 1
- Vorfahren 11
- Kindheit 51
- Zielsuche 153
- Forscherleben 281
- Resümee 413
- Stichwort- und Namensverzeichnis 427