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352 KAPITEL4. FORSCHERLEBEN
Wochenende ineiner erstengrobenFassung,meldetemichamBeginnderdarauffolgenden
Wochebei ihmundwir vereinbarten einenTermin, umdieseLösung ihmund seinen eng-
stenMitarbeiternmitzuteilen.Die angespannte Stimmungbei diesem informellenTreffen
im engstenKreis erinnertemich an diemeinesVortrages bei derGruppe vonBauerAn-
fang 1975. Gruppen scheinen es zu hassen, wenn einer von außen ihnen innerhalb ihres
eigenenTerrains etwasvormachenmöchte.DurchverwirrendeFragen, vor allemvonmei-
nemspäterenKollegenChristophWalther, geriet ich sodurcheinander, daßHerrWalther
mit deutlich zumAudruck gebrachter Verachtung demonstrativ das Zimmer verließ. Als
ich dann doch wieder den Faden fand, war niemandmehr interessiert, den Rest meiner
Erklärung zu erfahren.Man glaubte schlicht nichtmehr anmeine Lösung.
Diese unvergesseneBegebenheit wirft ein Licht auf einemeiner großen Schwächen. Ich
binwohl zuaußerordentlichenKonzentrationsleistungen fähig,wie somanchemeinerwis-
senschaftlichenErgebnissedemonstrieren.EinEinwandwiedervonHerrnWaltherbringt
michwährend einerDiskussion daher sofortwieder ins tiefeGrübeln.Wenndann,wie in
einer solchenRundeüblich, noch andere dazwischen quatschen, brichtmeinKonzentrati-
onsgebäude bald völlig zusammenund ich hinterlasse bei denAnwesenden denEindruck
eines hilflosen Stammlers. Dadurch ist dasAnsehen aber sofort verspielt, weilMenschen
ihreMitmenschen nach dem unmittelbaren, reflexhaft beurteilten Eindruck einschätzen.
Es gibt einen anderen, zu meinem quasi komplementärenMenschentypus, der über ein
phänomenalesSpontangedächtnis verfügtundderdaher zu jedemsolchenEinwand sofort
etwas einigermaßen Passendes aus seinemGedächtnis abrufen kann. Solche Spontange-
dächtnistypen haben zu Lebzeiten in der Gesellschaft einen viel höheren Stellenwert als
dieDenkertypen, weil siemit ihren spontanenReaktionen jederzeit andere beeindrucken
können, während letztere allzu oft vor lauterNachdenken ins Stammeln geraten und da-
durch ihrAnsehenverlieren.Dabei kommendiewirklichkreativenLösungenehervonden
Denkertypen,diedannoft erstnach ihremTodezudenverdientenEhrengelangen.107Wie
könnte dieser völlig ungerechtfertigte Vorteil der reflexbegünstigten Spontangedächtnis-
typen vor den reflexionsgehemmten Denkertypen im gesellschaftlichen Zusammenleben
ausgeglichenwerden?
Da ich jadurchmannigfacheErfahrungen inmeinemLebenbereitsdarangewöhntwar,
von anderen inwichtigenPunkten nicht ernst genug genommen zuwerden, ließ ichmich
durchdiedemütigendeBehandlung inSiekmannsGruppenichtbeirren. ImEigenstudium
107Ideal wäre natürlich einMenschentypusmit einer in dieser Hinsicht gleichgewichtetenVeranlagung.
Es sprichtnachmeinenKenntnissen jedochEinigesdafür,daßdasVorhandensein einer extremspontanen
Gedächtnisleistung das gleichzeitigeVorhandensein einer extremenDenkfähigkeit ausschließt und umge-
kehrt. In diesemFall wäre es falsch, von einer Schwäche zu reden,wie ich es hier inmeinemFall getan
habe.Umsowichtigerwäre für unsereGesellschaft eine faireGleichbewertung beiderTypen.
Reflexionen vor Reflexen
Memoiren eines Forschers
- Titel
- Reflexionen vor Reflexen
- Untertitel
- Memoiren eines Forschers
- Autor
- L. Wolfgang Bibel
- Verlag
- Cuviller Verlag Göttingen
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-SA 4.0
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 464
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 1
- Vorfahren 11
- Kindheit 51
- Zielsuche 153
- Forscherleben 281
- Resümee 413
- Stichwort- und Namensverzeichnis 427