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3.1. ENDEDERGYMNASIALZEIT 159
iturzeugnis hat neben der beschriebenen begabungsmäßigen Schwäche daher sicher auch
vielmit dieser Lehrerpersönlichkeit zu tun.
Ein Beispiel seines Verhaltens mag seinen Charakter andeutungsweise illustrieren. In
der siebtenKlassewar erunserKlassenlehrer. IhmoblagdaherdieAusgabederZeugnisse
am Jahresende. Angesichts meiner schwachen Leistungen in genau diesem Jahr war ich
bis zumPlatzen gespannt zu erfahren, ob ich es denn doch geschafft habe. AlleKlassen-
kameraden bekamen ihr Zeugnis ausgehändigt, nur ich nicht das meinige. Überdies ließ
er mich völlig imUnklaren über das Ergebnis. Zur Begründung wies er darauf hin, daß
nochdieFertigstellungvonHausarbeiten imFachKunsterziehungausstand.Unmittelbar
nach demEnde dieses Schuljahresmachte ichmich zu einerReise nachEngland auf, von
der ich weiter unten noch berichten werde.Während des ersten Teils dieser Reise blieb
ich daher noch immer völlig imUnklaren darüber, ob ich dasKlassenziel erreicht hatte.
EinLehrer, der sich so gegenüber einemSchüler verhält, weist eindeutig sadistischeZüge
auf.
Dieses Verhalten wollte auch mein Vater nicht tolerieren, der sich sonst so gut wie
nie inmeine schulischenAngelegenheiten einmischte undmutmaßlich nie in einerEltern-
sprechstunde einesmeiner Lehrer vorsprach.Wenn ich ihnwirklich brauchte, konnte ich
mich aber auf ihn verlassen. Er wendete sich nach dieser verweigerten Herausgabe des
Zeugnisses sofort persönlich an die Schule, wies aufmein juristisch verbrieftes Recht zur
HerausgabehinundkamdannauchpromptmitdemausgehändigtenZeugnisnachHause,
konntemir dasErgebniswegenmeinesAufenthalts inEngland dann aber erstTage oder
sogarWochen später auf irgendeineWeise übermitteln. Diemonierten Hausarbeiten für
Kunst habe ichnachderEngland-Reise imLaufe der Sommerferiendannauchnochbrav
abgeliefert.
Bittner hatte schon auch seine guten Seiten. Er beherrschte seinFach in respekteinflö-
ßendsouveränerWeise.SeineStrengehatmich jedenfalls zumBestehendesGroßenLatin-
umsgebracht; inwieweit siedabeibesonders förderlichwar,bleibedahingestellt.Bisheute
kann ich dank seiner beispielsweise aus demGoldenenZeitalter derOvidschenMetamor-
phosen aus demKopfe rezitieren.6 Er konnte, verbrämt in ästhetischen Beschreibungen,
sogarGefühle zeigen. So erinnere ichmichandieAnalyse eineswunderbaren lateinischen
Liebesgedichtes,mutmaßlich einesvonHoraz,mitder erunsdessen sprachlicheSchönhei-
ten überzeugend erläuterte. Ihmverdanke ich auchdie folgende tiefeEinsicht in die enge
6Aureaprimasataestaetas,quaevindicenullo,| sponte sua, sine legefidemrectumquecolebat. [Zuerst
ist das goldene Zeitalter entstanden, das ohne (strafenden) Richter,| von selbst, ohne Gesetz die Treue
und dasRechte pflegte.]
Ovid,Metamorphosen I, 89f.
Reflexionen vor Reflexen
Memoiren eines Forschers
- Titel
- Reflexionen vor Reflexen
- Untertitel
- Memoiren eines Forschers
- Autor
- L. Wolfgang Bibel
- Verlag
- Cuviller Verlag Göttingen
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-SA 4.0
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 464
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 1
- Vorfahren 11
- Kindheit 51
- Zielsuche 153
- Forscherleben 281
- Resümee 413
- Stichwort- und Namensverzeichnis 427