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92 Der Zugriff auf die Alpen und Blick von außen
Grenzwächter – auctoribus montanis – sind wohl die bairische Entsprechung zu den
langobardischen clusurae. In den Gesetzen des Ratchis wurde weiter angeordnet
clusas, qui disruptae sunt zu restaurieren. Dies ist ein Hinweis, dass je nach Bedro-
hungslage die Talsperren (aus-)gebaut wurden und einige nur im Kriegsfall besetzt
waren. In Friedenszeiten waren sie unbesetzt und verfielen. 175
Musste nun tatsächlich jeder Händler und jeder arme Pilger oder jede arme Pil-
gerin ein entsprechendes Schreiben mit sich tragen ? Es scheint, als ob sich diese
Vorschriften nur auf jene Menschen erstreckt hätten, denen ein Einfluss auf das
Geschick des Reiches zugetraut wurde. Mönche, Nonnen, Händler und Händle-
rinnen, die einfache Landbevölkerung und arme Leute gehörten nicht dazu und
konnten wohl ungehindert ihrer Wege gehen. Feinde nutzten diese Unterschei-
dung zwischen Mächtigen und Machtlosen, zwischen Reichen und Armen gerne
als Möglichkeit, ihre Boten zu verstecken, wie eine Quelle aus dem Anfang des
9. Jh. verrät : „Adrebald aber ließ sich den für den Kaiser bestimmten Brief heim-
lich geben und gab ihn einem seiner Leute, der ihn als Bettler verkleidet über die
Alpen tragen sollte, worauf er ihn dem Kaiser überreichte.“176 Auch der heilige
Gallus konnte sich auf der stark frequentierten Route über die Bündner Pässe in
der Gegend südlich des Bodensees eine Zeitlang als irischer Pilger tarnen und
so unauffällig vor dem alemannischen Herzog verstecken.177 Im Gegensatz dazu
erhielten bairische Rompilger Ende des 8. Jh. von ihren Bischöfen eine Art Passier-
schein, der ihnen die Erlaubnis zur Reise gab und um freundliche Aufnahme auf
fremdem Boden bat.178
Die genaue Konstruktion der frühmittelalterlichen Clusen kann heute nur mehr
teilweise rekonstruiert werden, da diese Befestigungen an Stellen errichtet wurden,
die noch in den nachfolgenden Jahrhunderten für die Verteidigung sehr wichtig
waren. So haben die drei Burgen sowie die das gesamte Tal absperrende Mauer
von Bellinzona aus dem 15. Jh. die früheren Spuren ganz zerstört. Eine Mauer von
Berg zu Berg könnte Teurnia in der Spätantike vor Angreifern aus dem Norden ge-
drücklich gesagt, dass der Ort zum Zeitpunkt von Corbinians Tod wieder von den Langobarden
beherrscht sei.
175 Allerdings nutzten auch noch die karolingischen Herrscher über Italien die langobardische Gren-
zorganisation. Capitularia I MGH capit. V Nr. 95, S. 201 ; Pohl, Frontiers in Lombard Italy 119 ff.,
127 ; Duparc, Les cluses 21.
176 Der sog. Astronomus, Vita Hludowici Imperatoris 56 : „Adrebaldus tamen epistolam imperatori desti-
natam ab eis occulte suscepit, et cuidam suorum sut obtentu mendici, quousque Alpes transiret, feren-
dam commisit, ac post imperatori porrexit.“ Übersetzung von Jasmund/Wattenbach, GdV 19 122.
177 Vita sancti Galli I 17.
178 Jahn, Ducatus 43.
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Die Alpen im Frühmittelalter
Die Geschichte eines Raumes in den Jahren 500 bis 800
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die Alpen im Frühmittelalter
- Untertitel
- Die Geschichte eines Raumes in den Jahren 500 bis 800
- Autor
- Katharina Winckler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78769-3
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 426
- Schlagwörter
- Alps, Transformation of the Roman World, Early middle Ages, Culture, Economy, Power Structures
- Kategorien
- Geographie, Land und Leute Bergbücher
Inhaltsverzeichnis
- 1: Einleitung 9
- 2 : Naturraum Alpen 22
- Begriffsdefinitionen 22
- Geologie 25
- Böden 27
- Wasser 28
- Naturkatastrophen 30
- Vegetationszonen 32
- Fauna 35
- Einstige Fauna und Flora der Alpen 36
- Das Klima in den Alpen : Gegenwart und Vergangenheit 38
- Das Gebirgsklima 39
- Lokale Faktoren 40
- Trockenes Klima der inneralpinen Täler 44
- Feuchtes Klima der Gebirgsrandlagen 46
- Zusatz : Klimatabelle ausgewählter Orte 48
- Das Klima des Frühmittelalters 49
- Globale Klimarekonstruktion 50
- Das frühmittelalterliche Klima in den Alpen 52
- Auswirkungen auf den Menschen 55
- Zusammenfassung 60
- 3 : Der Zugriff auf die Alpen und Blick von außen 62
- Die Alpen als Grenze 62
- Die Alpen als Mauern Italiens : Literarisches Bild und Realität 62
- Gotenkriege und Franken in den Alpen 72
- Karolinger und Ausblick 81
- Grenzen in den Alpen 83
- Konzept 83
- Grenzorganisation in den Alpen 87
- Bergwächter und militante Einheimische 87
- Befestigungen 90
- Slawisch-Awarische Grenzstrukturen Wahrnehmung der Alpen im Frühmittelalter : Furchtbares Gebirge, von den 95
- Römern bis Heinrich IV 100
- Zusammenfassung 110
- 4 : Über die Alpen : Kommunikation und Verkehrswege 114
- 5 : Menschen in den Alpen 172
- Christentum 172
- Entwicklung des Christentums in den Alpen 173
- Spätantikes und frühmittelalterliches Heidentum 182
- Patrozinien Die alpinen Kirchenprovinzen vom 6. bis zum 8. Jahrhundert : Fluktuation, 184
- Neuorientierung, Untergang 187
- Lokale christliche Topografie im Wandel 193
- Das Christentum in den nördlichen Voralpen –
- Neugründung oder Kontinuität ? 203
- Das Christentum in den Ostalpen – Gekappte Wurzeln ? 207
- Ausblick : Das Christentum im Alpenraum unter den Karolingern 217
- Klöster in den Alpen 219
- Westalpen 223
- Zentralalpen 224
- Alemannisches und bairisches Voralpenland 228
- Ostalpen 230
- Besiedlung 235
- Zentren 236
- „Stadt“ : Konzept und Begriffe 236
- Evolution der Städtischen Zentren im frühen Mittelalter 239
- Höhensiedlungen und Burgen 249
- Ländliche Siedlungen und Gutshöfe 254
- Wohnen im Frühmittelalter 259
- Siedlung : Lage und Versorgung 262
- Besiedlungsdichte 265
- Wirtschaft 268
- Alm- und Viehwirtschaft 271
- Ackerbau 279
- „Einöde“ : Sumpf, Wald, Hochgebirge 282
- Bevölkerung 284
- Migration 285
- Zusammenfassung 294
- 6 : Lokale Macht und Herrschaft in den Alpen 299
- 7 : Resümee 344
- 8 : Abbildungen 353
- 9 : Literaturverzeichnis 361