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96 Der Zugriff auf die Alpen und Blick von außen
ständig agieren konnten. Die genauen Grenzen zwischen diesen Gegenden sind
unklar. Möglicherweise gab es eventuell auch in den nördlichen Ostalpen eigene,
unabhängige slawische Machtbereiche, etwa im Ennstal. Die Grenzzonen der von
den Slawen beherrschten Regionen zu den umliegenden Reichen scheinen breiter
als damals sonst üblich gewesen zu sein. Es war jedenfalls typisch für die slawi-
sche Siedlungsweise des späteren Mittelalters, dass einzelne Siedlungsräume durch
breite Waldzonen oder Höhenzüge voneinander getrennt waren.196
Eine gute Beschreibung so einer breiten Grenzzone im Gebirge kann uns Paulus
Diaconus aus seiner Familiengeschichte vermitteln. Um das Jahr 610 wurde sein
Urgroßvater, damals noch ein Kind, aus dem Friaul in das Awarenland, also nach
Pannonien, verschleppt. Als Erwachsener beschloss er, seine Freiheit zurückzuer-
langen, und floh. Die Geschichte wurde wohl über mehrere Generationen hinweg
mündlich in der Familie weitererzählt :
„Auf seine Flucht nahm er bloß einen Bogen mit dem Köcher und etwas Wegezehrung
mit, wusste aber gar nicht, wohin er ziehen sollte : da kam ein Wolf und wurde ihm
Führer und Begleiter auf der Reise. […] Als sie auf diese Weise mehrere Tage durch das
einsame Gebirge gezogen waren, ging dem Wanderer das wenige Brot das er hatte ganz
aus. (Fast verhungert er, doch in einem Traum wird ihm der richtige Weg gewiesen.
Anm. d. Verfass.) Es waren aber in jenen Gegenden Slaven ansässig. Eine bereits ältliche
Frau merkte bald, als sie ihn erblickte, daß er ein Flüchtling sei und Hunger leide. […] In
angemessener Weise gab sie ihm so zu essen, bis er wieder völlig zu Kräften gekommen
war ; und als er ihr nun zur Fortsetzung der Reise kräftig genug erschien, so gab sie ihm
noch Speise auf den Weg mit und wies ihn an, welche Richtung er einschlagen müsste.
Nach einigen Tagen erreichte er Italien und kam zu dem Hause, in dem er geboren
war.“197
Die hier beschriebene Grenzzone zwischen Langobarden und Awaren ist wohl die
heutige Krain in Slowenien.198 Slawen bewohnten das gebirgige Gebiet, die Region
war also nicht siedlungsleer. Dennoch erscheint dieses Gebiet in der Erzählung
frei von Autoritäten und Befestigungen. Die Einwohner scheinen sich nicht an
die Weisungen der Obrigkeit gebunden gefühlt zu haben, denn sonst hätte die
Frau dem Flüchtling nicht zu essen gegeben und ihm den richtigen Weg gewie-
sen, sondern ihn entweder versteckt oder verraten. Ein Flüchtling konnte sich frei
196 Lecziejewicz, Herkunft und Gliederung 235.
197 Paulus Diaconus Hist. Lang. IV 37. Übersetzung : Abel/Heine 160 f.
198 Krahwinkler, Friaul 44.
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Die Alpen im Frühmittelalter
Die Geschichte eines Raumes in den Jahren 500 bis 800
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die Alpen im Frühmittelalter
- Untertitel
- Die Geschichte eines Raumes in den Jahren 500 bis 800
- Autor
- Katharina Winckler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78769-3
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 426
- Schlagwörter
- Alps, Transformation of the Roman World, Early middle Ages, Culture, Economy, Power Structures
- Kategorien
- Geographie, Land und Leute Bergbücher
Inhaltsverzeichnis
- 1: Einleitung 9
- 2 : Naturraum Alpen 22
- Begriffsdefinitionen 22
- Geologie 25
- Böden 27
- Wasser 28
- Naturkatastrophen 30
- Vegetationszonen 32
- Fauna 35
- Einstige Fauna und Flora der Alpen 36
- Das Klima in den Alpen : Gegenwart und Vergangenheit 38
- Das Gebirgsklima 39
- Lokale Faktoren 40
- Trockenes Klima der inneralpinen Täler 44
- Feuchtes Klima der Gebirgsrandlagen 46
- Zusatz : Klimatabelle ausgewählter Orte 48
- Das Klima des Frühmittelalters 49
- Globale Klimarekonstruktion 50
- Das frühmittelalterliche Klima in den Alpen 52
- Auswirkungen auf den Menschen 55
- Zusammenfassung 60
- 3 : Der Zugriff auf die Alpen und Blick von außen 62
- Die Alpen als Grenze 62
- Die Alpen als Mauern Italiens : Literarisches Bild und Realität 62
- Gotenkriege und Franken in den Alpen 72
- Karolinger und Ausblick 81
- Grenzen in den Alpen 83
- Konzept 83
- Grenzorganisation in den Alpen 87
- Bergwächter und militante Einheimische 87
- Befestigungen 90
- Slawisch-Awarische Grenzstrukturen Wahrnehmung der Alpen im Frühmittelalter : Furchtbares Gebirge, von den 95
- Römern bis Heinrich IV 100
- Zusammenfassung 110
- 4 : Über die Alpen : Kommunikation und Verkehrswege 114
- 5 : Menschen in den Alpen 172
- Christentum 172
- Entwicklung des Christentums in den Alpen 173
- Spätantikes und frühmittelalterliches Heidentum 182
- Patrozinien Die alpinen Kirchenprovinzen vom 6. bis zum 8. Jahrhundert : Fluktuation, 184
- Neuorientierung, Untergang 187
- Lokale christliche Topografie im Wandel 193
- Das Christentum in den nördlichen Voralpen –
- Neugründung oder Kontinuität ? 203
- Das Christentum in den Ostalpen – Gekappte Wurzeln ? 207
- Ausblick : Das Christentum im Alpenraum unter den Karolingern 217
- Klöster in den Alpen 219
- Westalpen 223
- Zentralalpen 224
- Alemannisches und bairisches Voralpenland 228
- Ostalpen 230
- Besiedlung 235
- Zentren 236
- „Stadt“ : Konzept und Begriffe 236
- Evolution der Städtischen Zentren im frühen Mittelalter 239
- Höhensiedlungen und Burgen 249
- Ländliche Siedlungen und Gutshöfe 254
- Wohnen im Frühmittelalter 259
- Siedlung : Lage und Versorgung 262
- Besiedlungsdichte 265
- Wirtschaft 268
- Alm- und Viehwirtschaft 271
- Ackerbau 279
- „Einöde“ : Sumpf, Wald, Hochgebirge 282
- Bevölkerung 284
- Migration 285
- Zusammenfassung 294
- 6 : Lokale Macht und Herrschaft in den Alpen 299
- 7 : Resümee 344
- 8 : Abbildungen 353
- 9 : Literaturverzeichnis 361