Seite - 258 - in Die Alpen im Frühmittelalter - Die Geschichte eines Raumes in den Jahren 500 bis 800
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258 Menschen in den Alpen
nicht von ungefähr. Denn in Gallien und damit auch in den Westalpen wandelten
sich viele einstige römische Gutshöfe in dörfliche Siedlungen um. Schon im 8./9. Jh.
wurden kleinere Siedlungen vicus oder auch villa genannt.482
Die ländliche Siedlungsdynamik war im Zeitraum von der Spätantike bis zum ho-
hen Mittelalter sehr hoch. Sie hatte in den verschiedenen Regionen eine ganz unter-
schiedliche Intensität. So gab es im 6. Jh. in Burgund eine Gründungswelle von neuen
Dörfern, deren Ausmaß erst wieder im 10. Jh. erreicht wurde. Im Elsass hingegen
kam es eher im 5. Jh. zu vermehrten Neugründungen. Dies widerspricht der gängi-
gen These, wonach es in dieser Zeit überall zu einem Siedlungsrückgang gekommen
sein soll. Die Siedlungsfluktuationen haben regional ganz unterschiedliche Gründe.483
Oben schon angerissen wurde die Siedlungsdynamik, die sich rund um Friedhofskir-
chen vor den Mauern antiker Städte entwickelte : Oft entstanden hier neue Dörfer.484
Alpine Beispiele sind St. Laurent in Grenoble und St. Gervais bei Genf.485
Weiter unten wird auf den Einfluss der Landwirtschaft eingegangen werden,
der gerade in neu erschlossenen Gebieten der Alpen für eine Beweglichkeit der
Dörfer sorgte. Die Behausungen befanden sich immer in der größtmöglichen Nähe
zu den bewirtschafteten Feldern. Wenn die Fruchtbarkeit der Felder nach einigen
Jahren nachließ, wurde das Dorf einfach um einige Hundert Meter verlagert. Im
Gegensatz zu den in Stein gebauten römischen vici und villae konnten die meist
aus vergänglichen Materialien gebauten Häuser des frühen Mittelalters leicht auf-
gegeben werden. Bei einer christlichen Bevölkerung gab es als Fixpunkt eine stei-
nerne oder aufwendiger aus Holz gebaute Kirche, um die die Siedlungen rotierten.
Diese Mobilität der Dörfer ist der Grund, warum heute manche Kirchen weit vom
Dorfzentrum entfernt stehen : Zu ihrem Erbauungszeitpunkt standen sie inmitten
des damaligen Dorfes. Durch die Landwirtschaft bewegte sich jedoch der Ort im-
mer weiter von der Kirche weg, bis ab dem hohen Mittelalter die Behausungen
fix wurden.486 Innerhalb einer Region konnten ganz verschiedenen Modelle der
ländlichen Siedlungsentwicklung nebeneinander existieren, von einer Kontinuität
seit römischer Zeit bis zu nur wenige Jahrzehnte lang existierenden Orten.487
482 Lebecq, Les origines franques 78 ; Bundi, Besiedlungs- und Wirtschaftsgeschichte Graubündens
37 f.
483 Peytermann, Topographie et chronologie 300, 308 ; Küster, Geschichte der Landschaft 110 f., 163 f.;
Curta, The making of the Slavs 276 ; Wickham, Framing 496 zu „itinerant agriculture“ und „shifting
villages/hamlets“.
484 Gauthier, Le paysage urbain 60 ; Lebecq, Les origines franques 29 f.
485 Bonnet, Le fouilles de l’ancient groupe épiscopal de Genève 20 f.
486 Küster, Geschichte der Landschaft 160 ff.; Wickham, Framing 496 ; Westalpen : Bouvier, Eclairages
27.
487 Chopelain, De la villa au village 279, 283.
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Inhaltsverzeichnis
- 1: Einleitung 9
- 2 : Naturraum Alpen 22
- Begriffsdefinitionen 22
- Geologie 25
- Böden 27
- Wasser 28
- Naturkatastrophen 30
- Vegetationszonen 32
- Fauna 35
- Einstige Fauna und Flora der Alpen 36
- Das Klima in den Alpen : Gegenwart und Vergangenheit 38
- Das Gebirgsklima 39
- Lokale Faktoren 40
- Trockenes Klima der inneralpinen Täler 44
- Feuchtes Klima der Gebirgsrandlagen 46
- Zusatz : Klimatabelle ausgewählter Orte 48
- Das Klima des Frühmittelalters 49
- Globale Klimarekonstruktion 50
- Das frühmittelalterliche Klima in den Alpen 52
- Auswirkungen auf den Menschen 55
- Zusammenfassung 60
- 3 : Der Zugriff auf die Alpen und Blick von außen 62
- Die Alpen als Grenze 62
- Die Alpen als Mauern Italiens : Literarisches Bild und Realität 62
- Gotenkriege und Franken in den Alpen 72
- Karolinger und Ausblick 81
- Grenzen in den Alpen 83
- Konzept 83
- Grenzorganisation in den Alpen 87
- Bergwächter und militante Einheimische 87
- Befestigungen 90
- Slawisch-Awarische Grenzstrukturen Wahrnehmung der Alpen im Frühmittelalter : Furchtbares Gebirge, von den 95
- Römern bis Heinrich IV 100
- Zusammenfassung 110
- 4 : Über die Alpen : Kommunikation und Verkehrswege 114
- 5 : Menschen in den Alpen 172
- Christentum 172
- Entwicklung des Christentums in den Alpen 173
- Spätantikes und frühmittelalterliches Heidentum 182
- Patrozinien Die alpinen Kirchenprovinzen vom 6. bis zum 8. Jahrhundert : Fluktuation, 184
- Neuorientierung, Untergang 187
- Lokale christliche Topografie im Wandel 193
- Das Christentum in den nördlichen Voralpen –
- Neugründung oder Kontinuität ? 203
- Das Christentum in den Ostalpen – Gekappte Wurzeln ? 207
- Ausblick : Das Christentum im Alpenraum unter den Karolingern 217
- Klöster in den Alpen 219
- Westalpen 223
- Zentralalpen 224
- Alemannisches und bairisches Voralpenland 228
- Ostalpen 230
- Besiedlung 235
- Zentren 236
- „Stadt“ : Konzept und Begriffe 236
- Evolution der Städtischen Zentren im frühen Mittelalter 239
- Höhensiedlungen und Burgen 249
- Ländliche Siedlungen und Gutshöfe 254
- Wohnen im Frühmittelalter 259
- Siedlung : Lage und Versorgung 262
- Besiedlungsdichte 265
- Wirtschaft 268
- Alm- und Viehwirtschaft 271
- Ackerbau 279
- „Einöde“ : Sumpf, Wald, Hochgebirge 282
- Bevölkerung 284
- Migration 285
- Zusammenfassung 294
- 6 : Lokale Macht und Herrschaft in den Alpen 299
- 7 : Resümee 344
- 8 : Abbildungen 353
- 9 : Literaturverzeichnis 361