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Der zentrale Alpen- und Voralpenraum 307
Teilreich verbunden gewesen sein.38 Der Bischofssitz wurde über Generationen
von der führenden Familie des Landes besetzt, den sogenannten „Victoriden“. Sie
wird auf einen Ahnherren Zacco zurückgeführt, der etwa im 6. Jh. gelebt hatte und
vermutlich aus dem fränkischen Herrschaftsraum stammte, zu dem ja auch Chur
ab dieser Zeit gehörte. Die Familie verfügte über großen Landbesitz. Diese Re-
gion zeigt damit eine große Verwandtschaft zu lokalen Verhältnissen in Gallien zur
Merowingerzeit.39 Der Landbesitz der Familie wird durch das sogenannte „Tello-
Testament“ sichtbar, eine Urkunde die zumindest in einigen Teilen des Inhalts
aus dem Jahr 765 stammt. In dieser Quelle erscheinen noch römische Standesbe-
zeichnungen wie curiales. Diese übten wohl nicht mehr das römische Amt in altem
Sinne aus, zeigen aber die Entwicklung der Urkunden Churrätiens aus spätantiken
Traditionen.40
Im 8. Jh. band die frühe karolingische Herrschaft die Provinz wieder stärker an
sich und gliederte sie schrittweise in die fränkische Hegemonie ein. Um 806 dürfte
dann die Grafschaftsverfassung eingeführt worden sein. Dies bedeutete für Chur-
rätien, dass nun verschiedene Adelsgruppen, „adelige Geschlechter im Gefolge
der Teilreichsherrscher“41, einwanderten und versuchten, ihre Macht auszubauen.
Dies geschah auf Kosten der alten Eliten. Der Besitz des churrätischen Bischofes,
ehemaliges römisches Fiskalgut und Familiengut der Victoriden, wurde in bischöf-
lichen und gräflichen geteilt.42 Die Grafen bedienten sich dabei offenbar mehr als
großzügig. Vier erhaltene Klagschriften dokumentieren, dass Bischof Victor III. um
824 versuchte, den ehemaligen Besitz wiederzuerlangen. Doch er konnte sich nur
mit einem Bruchteil zufriedengeben, fast sieben Achtel der Kirchen und die Klös-
ter Disentis, Pfäfers und Müstair waren dem Bischof verloren gegangen.43
Die Aussteller der rätischen Urkunden des 8. und 9. Jh, die als Original in
St. Gallen erhalten sind, dürften einer bäuerlichen, romanischen Mittelschicht
angehört haben. Unfreie kommen in den erhaltenen Urkunden kaum vor. Aber
die These, aus den fehlenden Erwähnungen von Unfreien auf eine breite Schicht
von freien (Klein-)Bauern zu schließen, wird heute eher abgelehnt. Auffallend
an diesen Urkunden ist die hohe Beteiligung – etwa 35 % – von Frauen an den
38 Kaiser, Churrätien 37 ff.
39 Clavadetscher, Rätien im Mittelalter 23 ; Kaiser, Churrätien 45 ff.; Meyer-Marthaler, Rätien im frü-
hen Mittelalter 22 f.
40 Clavadetscher, Rätien im Mittelalter 26 ff.; Zu den spätantiken Rechtstraditionen in Churrätien siehe
Meyer-Marthaler 24 ff. sowie zu den Curialen S. 51 ff.
41 Kaiser, Churrätien 45 ff., 58.
42 Ebd. 53.
43 Clavadetscher, Rätien im Mittelalter 48 ff.; Wolfram, Grenzen und Räume 146.
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Die Alpen im Frühmittelalter
Die Geschichte eines Raumes in den Jahren 500 bis 800
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die Alpen im Frühmittelalter
- Untertitel
- Die Geschichte eines Raumes in den Jahren 500 bis 800
- Autor
- Katharina Winckler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78769-3
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 426
- Schlagwörter
- Alps, Transformation of the Roman World, Early middle Ages, Culture, Economy, Power Structures
- Kategorien
- Geographie, Land und Leute Bergbücher
Inhaltsverzeichnis
- 1: Einleitung 9
- 2 : Naturraum Alpen 22
- Begriffsdefinitionen 22
- Geologie 25
- Böden 27
- Wasser 28
- Naturkatastrophen 30
- Vegetationszonen 32
- Fauna 35
- Einstige Fauna und Flora der Alpen 36
- Das Klima in den Alpen : Gegenwart und Vergangenheit 38
- Das Gebirgsklima 39
- Lokale Faktoren 40
- Trockenes Klima der inneralpinen Täler 44
- Feuchtes Klima der Gebirgsrandlagen 46
- Zusatz : Klimatabelle ausgewählter Orte 48
- Das Klima des Frühmittelalters 49
- Globale Klimarekonstruktion 50
- Das frühmittelalterliche Klima in den Alpen 52
- Auswirkungen auf den Menschen 55
- Zusammenfassung 60
- 3 : Der Zugriff auf die Alpen und Blick von außen 62
- Die Alpen als Grenze 62
- Die Alpen als Mauern Italiens : Literarisches Bild und Realität 62
- Gotenkriege und Franken in den Alpen 72
- Karolinger und Ausblick 81
- Grenzen in den Alpen 83
- Konzept 83
- Grenzorganisation in den Alpen 87
- Bergwächter und militante Einheimische 87
- Befestigungen 90
- Slawisch-Awarische Grenzstrukturen Wahrnehmung der Alpen im Frühmittelalter : Furchtbares Gebirge, von den 95
- Römern bis Heinrich IV 100
- Zusammenfassung 110
- 4 : Über die Alpen : Kommunikation und Verkehrswege 114
- 5 : Menschen in den Alpen 172
- Christentum 172
- Entwicklung des Christentums in den Alpen 173
- Spätantikes und frühmittelalterliches Heidentum 182
- Patrozinien Die alpinen Kirchenprovinzen vom 6. bis zum 8. Jahrhundert : Fluktuation, 184
- Neuorientierung, Untergang 187
- Lokale christliche Topografie im Wandel 193
- Das Christentum in den nördlichen Voralpen –
- Neugründung oder Kontinuität ? 203
- Das Christentum in den Ostalpen – Gekappte Wurzeln ? 207
- Ausblick : Das Christentum im Alpenraum unter den Karolingern 217
- Klöster in den Alpen 219
- Westalpen 223
- Zentralalpen 224
- Alemannisches und bairisches Voralpenland 228
- Ostalpen 230
- Besiedlung 235
- Zentren 236
- „Stadt“ : Konzept und Begriffe 236
- Evolution der Städtischen Zentren im frühen Mittelalter 239
- Höhensiedlungen und Burgen 249
- Ländliche Siedlungen und Gutshöfe 254
- Wohnen im Frühmittelalter 259
- Siedlung : Lage und Versorgung 262
- Besiedlungsdichte 265
- Wirtschaft 268
- Alm- und Viehwirtschaft 271
- Ackerbau 279
- „Einöde“ : Sumpf, Wald, Hochgebirge 282
- Bevölkerung 284
- Migration 285
- Zusammenfassung 294
- 6 : Lokale Macht und Herrschaft in den Alpen 299
- 7 : Resümee 344
- 8 : Abbildungen 353
- 9 : Literaturverzeichnis 361