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320 Lokale Macht und Herrschaft in den Alpen
hagiografische Übertreibung. Der reale Hintergrund könnte aber beispielsweise so
gewesen sein, dass der cursus publicus damals nicht mehr in Betrieb und auch der
im offiziellen Auftrag Reisende auf sich allein gestellt war.
Im Gegensatz dazu präsentiert sich der binnennorische Raum Anfang des 6. Jh.
sehr lebendig. Noch über ein halbes Jahrhundert später hatte Venantius Fortunatus
entlang des oberen Drautales keine Probleme, die Wege und Pässe zu benutzen.107
Es herrschte rege Bautätigkeit in Aguntum/Lavant, Teurnia, am Hemmaberg
und an anderen Höhensiedlungen Binnennoricums und die civitates erscheinen
noch gelegentlich in den Quellen.108 Die Zugehörigkeit des Kärntner Raumes zum
Ostgotenreich des Theoderich ist unzweifelhaft.109 Ab dem Jahr 535 wüteten die
Kriege von Goten, Byzantinern und Franken in Italien. Diese Kämpfe haben si-
cherlich zumindest indirekt Binnennoricum betroffen.110 Die Region scheint nun
nicht mehr einem einheitlichen Herrschaftsbereich zugeordnet gewesen zu sein.
Der westliche Teil kam zunehmend unter fränkischen Einfluss, während das öst-
liche Alpenvorland unter byzantinischer Herrschaft war. Diese dürfte allerdings
eher nominell denn faktisch gewesen sein. Diese politischen Zugehörigkeiten zei-
gen sich einerseits durch die Aktivitäten fränkischer Priester Ende des 6. Jh. in
Binnennoricum und andererseits durch die polis Noricon, die Kaiser Justinian 547
den Langobarden übergab.111 Damit gemeint waren wohl die Stadtgebiete von
Celeia/Celje und Poetovio/Ptuj.112 Von inneralpinen Kampfhandlungen ist nichts
bekannt.113 Trotzdem bedeuteten diese unruhigen Zeiten wohl einen deutlichen
Einbruch für die Handels- und Verkehrsrouten von und nach Italien.
Als im Jahr 568 die Langobarden in Italien einmarschierten, bedeutete das für
den Ostalpenraum einen weiteren Einschnitt. Die nun herrschaftsfreien Gebiete
in Pannonien wurden von den Langobarden den Awaren übergeben.114 Diese er-
oberten in der Folge auch Binnennoricum. Wann genau der Ostalpenraum die po-
litische Verbindung zu den Reichen der Franken verloren hatte, ist nicht klar. Die
letzte sichere Nachricht darüber stammt aus den Siebzigerjahren des 6. Jh. Nicht
lange danach muss Binnennoricum in awarisch-slawische Hand gekommen sein.115
107 Venantius Fortunatus Vita S. Martini Lib. IV MGH Auct. ant. 4.1, S. 368.
108 Zu den einzelnen Orten siehe die Kapitel Stadtentwicklung und Christliche Topografie.
109 Wolfram, Die Goten 315 ff.
110 Zu den Auswirkungen im Friaul : Krahwinkler, Friaul 22 ff.
111 Prokopios Bell. Got. III (VII) 33.10 ed. Dewing 440.
112 Wolfram, Grenzen und Räume 68. Dafür würde auch die „nichtromanische“ Komponente im Fund-
spektrum sprechen, Scherrer, Anmerkungen zur Siedlungssoziologie 230 f.
113 Siehe auch Kapitel „Gotenkriege und Franken in den Alpen“ ab S. 74.
114 Paulus Diaconus Hist. Lang. II 7 ; Krahwinkler, Friaul 29.
115 Pohl, Awaren 52 f., 147 ff.; Berg, Bischöfe und Bischofssitze 83. Siehe dazu auch S. 76 ff.
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Buch Die Alpen im Frühmittelalter - Die Geschichte eines Raumes in den Jahren 500 bis 800"
Inhaltsverzeichnis
- 1: Einleitung 9
- 2 : Naturraum Alpen 22
- Begriffsdefinitionen 22
- Geologie 25
- Böden 27
- Wasser 28
- Naturkatastrophen 30
- Vegetationszonen 32
- Fauna 35
- Einstige Fauna und Flora der Alpen 36
- Das Klima in den Alpen : Gegenwart und Vergangenheit 38
- Das Gebirgsklima 39
- Lokale Faktoren 40
- Trockenes Klima der inneralpinen Täler 44
- Feuchtes Klima der Gebirgsrandlagen 46
- Zusatz : Klimatabelle ausgewählter Orte 48
- Das Klima des Frühmittelalters 49
- Globale Klimarekonstruktion 50
- Das frühmittelalterliche Klima in den Alpen 52
- Auswirkungen auf den Menschen 55
- Zusammenfassung 60
- 3 : Der Zugriff auf die Alpen und Blick von außen 62
- Die Alpen als Grenze 62
- Die Alpen als Mauern Italiens : Literarisches Bild und Realität 62
- Gotenkriege und Franken in den Alpen 72
- Karolinger und Ausblick 81
- Grenzen in den Alpen 83
- Konzept 83
- Grenzorganisation in den Alpen 87
- Bergwächter und militante Einheimische 87
- Befestigungen 90
- Slawisch-Awarische Grenzstrukturen Wahrnehmung der Alpen im Frühmittelalter : Furchtbares Gebirge, von den 95
- Römern bis Heinrich IV 100
- Zusammenfassung 110
- 4 : Über die Alpen : Kommunikation und Verkehrswege 114
- 5 : Menschen in den Alpen 172
- Christentum 172
- Entwicklung des Christentums in den Alpen 173
- Spätantikes und frühmittelalterliches Heidentum 182
- Patrozinien Die alpinen Kirchenprovinzen vom 6. bis zum 8. Jahrhundert : Fluktuation, 184
- Neuorientierung, Untergang 187
- Lokale christliche Topografie im Wandel 193
- Das Christentum in den nördlichen Voralpen –
- Neugründung oder Kontinuität ? 203
- Das Christentum in den Ostalpen – Gekappte Wurzeln ? 207
- Ausblick : Das Christentum im Alpenraum unter den Karolingern 217
- Klöster in den Alpen 219
- Westalpen 223
- Zentralalpen 224
- Alemannisches und bairisches Voralpenland 228
- Ostalpen 230
- Besiedlung 235
- Zentren 236
- „Stadt“ : Konzept und Begriffe 236
- Evolution der Städtischen Zentren im frühen Mittelalter 239
- Höhensiedlungen und Burgen 249
- Ländliche Siedlungen und Gutshöfe 254
- Wohnen im Frühmittelalter 259
- Siedlung : Lage und Versorgung 262
- Besiedlungsdichte 265
- Wirtschaft 268
- Alm- und Viehwirtschaft 271
- Ackerbau 279
- „Einöde“ : Sumpf, Wald, Hochgebirge 282
- Bevölkerung 284
- Migration 285
- Zusammenfassung 294
- 6 : Lokale Macht und Herrschaft in den Alpen 299
- 7 : Resümee 344
- 8 : Abbildungen 353
- 9 : Literaturverzeichnis 361