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1.1 Die Forschungsfragen
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ben Charaktere , Verhaltensweisen , Institutionen etc. als moralisch gut oder schlecht oder
ähnlich beurteilt werden bzw. entsprechend gehandelt wird. Als Praxisform gehören zu
einer Moral Regeln , Normen und Werte , aber auch Handlungen , Urteile und emotiona-
le Ausdrucksformen. „Ethik“ meint die philosophische Auseinandersetzung mit der bzw.
einer Moral. Auch eine bzw. die Ethik ist im weitesten Sinne eine Praxisform , jedoch eine
Ausprägung der Praxisform Philosophie und kann mithin je nach Philosophieverständnis
in sehr unterschiedlicher Ausprägung betrieben werden. Wer die Aufgabe der Philoso-
phie in der Konstruktion formaler Kunstsprachen sieht , wird eine andere Ethik praktizie-
ren als Philosophinnen und Philosophen , die sich als Wegbereiterinnen bzw. Wegbereiter
oder Hüterinnen und Hüter bestimmter moralischer Positionen verstehen. Je ähnlicher
die Aufgaben von Moral und Ethik gesehen werden , umso schwieriger wird es zudem ,
diese auseinander zu halten. Darüber hinaus ist es in der Alltagssprache heute gebräuch-
lich , den Ausdruck „Moral“ durch „Ethik“ zu ersetzen , was zu vielen Missverständnissen
Anlass gibt.3 Vielleicht wird es in Zukunft empfehlenswert sein , nicht mehr von „Ethik“
zu sprechen , wenn Moralphilosophie gemeint ist , sondern von „Philosophie der Ethik“.
Hier werde ich dies jedoch noch nicht tun.
Die vorliegende Untersuchung ist insbesondere folgenden Fragen gewidmet : Was ha-
ben Mitglieder des Wiener Kreises zur philosophischen Auseinandersetzung mit der / ei-
ner Moral beigetragen ? Zerstören die vertretenen Auffassungen die Moral und / oder die
Ethik ? Ist eine normative Ethik möglich ? Ist Angewandte Ethik möglich , und wenn ja ,
in welcher Form ? Eine Darlegung der Beiträge im Überblick wird zeigen , worin sich
diese unterschieden , aber auch inwiefern sie sich in gemeinsamen moralischen und ethi-
schen Grundüberzeugungen trafen. Um einem verengten Bild entgegenzutreten , werden
nicht nur radikale und „typische“ Logische Empiristinnen und Empiristen des Wiener
Kreises wie Rudolf Carnap behandelt werden , dessen Aussagen häufig als für den gan-
zen Kreis repräsentativ gehalten werden. Dies wäre einfach , jedoch irreführend. Darü-
ber hinaus wird es nicht lediglich um metaethische Positionen oder gar nur emotivisti-
sche Positionen gehen. Ebenso wenig wird die relevante Literatur nicht nur synchron ,
sondern auch diachron untersucht werden. Es wird sich zeigen , dass die Beiträge weit-
aus komplexer sind , als das vorherrschende Bild des Wiener Kreises es zulassen würde ,
ja dass selbst im Wiener Kreis Angewandte Ethik betrieben wurde , und dies sogar be-
reits unter diesem Namen.
Bevor ich ausführlicher auf thematische Eingrenzungen eingehen werde , soll auch in
Vorbereitung auf diese Aufgabe der Wiener Kreis in der nötigen Ausführlichkeit , aber
auch gebotenen Kürze , vorgestellt werden. Nicht alle Leserinnen und Leser werden mit
diesem ausreichend vertraut sein , um der Untersuchung ohne unnötige Schwierigkeiten
folgen zu können.
3 So handelt es sich bei Ethikkommissionen meinem Sprachgebrauch zufolge um Moralkommissionen.
Ihre Mitglieder werden durch die Mitgliedschaft keineswegs zu Philosophinnen oder Philosophen.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441