Seite - 15 - in Ethik und Moral im Wiener Kreis - Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
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1.1 Die Forschungsfragen
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ben Charaktere , Verhaltensweisen , Institutionen etc. als moralisch gut oder schlecht oder
ähnlich beurteilt werden bzw. entsprechend gehandelt wird. Als Praxisform gehören zu
einer Moral Regeln , Normen und Werte , aber auch Handlungen , Urteile und emotiona-
le Ausdrucksformen. „Ethik“ meint die philosophische Auseinandersetzung mit der bzw.
einer Moral. Auch eine bzw. die Ethik ist im weitesten Sinne eine Praxisform , jedoch eine
Ausprägung der Praxisform Philosophie und kann mithin je nach Philosophieverständnis
in sehr unterschiedlicher Ausprägung betrieben werden. Wer die Aufgabe der Philoso-
phie in der Konstruktion formaler Kunstsprachen sieht , wird eine andere Ethik praktizie-
ren als Philosophinnen und Philosophen , die sich als Wegbereiterinnen bzw. Wegbereiter
oder Hüterinnen und Hüter bestimmter moralischer Positionen verstehen. Je ähnlicher
die Aufgaben von Moral und Ethik gesehen werden , umso schwieriger wird es zudem ,
diese auseinander zu halten. Darüber hinaus ist es in der Alltagssprache heute gebräuch-
lich , den Ausdruck „Moral“ durch „Ethik“ zu ersetzen , was zu vielen Missverständnissen
Anlass gibt.3 Vielleicht wird es in Zukunft empfehlenswert sein , nicht mehr von „Ethik“
zu sprechen , wenn Moralphilosophie gemeint ist , sondern von „Philosophie der Ethik“.
Hier werde ich dies jedoch noch nicht tun.
Die vorliegende Untersuchung ist insbesondere folgenden Fragen gewidmet : Was ha-
ben Mitglieder des Wiener Kreises zur philosophischen Auseinandersetzung mit der / ei-
ner Moral beigetragen ? Zerstören die vertretenen Auffassungen die Moral und / oder die
Ethik ? Ist eine normative Ethik möglich ? Ist Angewandte Ethik möglich , und wenn ja ,
in welcher Form ? Eine Darlegung der Beiträge im Überblick wird zeigen , worin sich
diese unterschieden , aber auch inwiefern sie sich in gemeinsamen moralischen und ethi-
schen Grundüberzeugungen trafen. Um einem verengten Bild entgegenzutreten , werden
nicht nur radikale und „typische“ Logische Empiristinnen und Empiristen des Wiener
Kreises wie Rudolf Carnap behandelt werden , dessen Aussagen häufig als für den gan-
zen Kreis repräsentativ gehalten werden. Dies wäre einfach , jedoch irreführend. Darü-
ber hinaus wird es nicht lediglich um metaethische Positionen oder gar nur emotivisti-
sche Positionen gehen. Ebenso wenig wird die relevante Literatur nicht nur synchron ,
sondern auch diachron untersucht werden. Es wird sich zeigen , dass die Beiträge weit-
aus komplexer sind , als das vorherrschende Bild des Wiener Kreises es zulassen würde ,
ja dass selbst im Wiener Kreis Angewandte Ethik betrieben wurde , und dies sogar be-
reits unter diesem Namen.
Bevor ich ausführlicher auf thematische Eingrenzungen eingehen werde , soll auch in
Vorbereitung auf diese Aufgabe der Wiener Kreis in der nötigen Ausführlichkeit , aber
auch gebotenen Kürze , vorgestellt werden. Nicht alle Leserinnen und Leser werden mit
diesem ausreichend vertraut sein , um der Untersuchung ohne unnötige Schwierigkeiten
folgen zu können.
3 So handelt es sich bei Ethikkommissionen meinem Sprachgebrauch zufolge um Moralkommissionen.
Ihre Mitglieder werden durch die Mitgliedschaft keineswegs zu Philosophinnen oder Philosophen.
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441